In schlechter Tradition

Die Warnungen vor der vielzitierten Lohn-Preis-Spirale sind absurd

Während viele Konzerne trotz einer hohen Inflation Rekordprofite einfahren, sollen Lohnabhängige die Entwertung ihrer Einkommen duldsam ertragen.

Kurz vor dem 1. Mai verkündete das Statistische Bundesamt einen erneuten Anstieg der ohnehin hohen Inflation. Auf 7,4 Prozent stieg die Rate der Teuerung im Vergleich zum Vorjahresmonat im April und damit auf den höchsten Wert seit mehr als 40 Jahren.

Anzeige

Das hat verheerende soziale Folgen. Immer mehr Lohnabhängige geraten angesichts der seit Monaten steigenden Lebensmittelkosten und Energiepreise an ihre finanziellen Grenzen. Rentenberatungsstellen, Sozialverbände und Wohlfahrtsorganisationen schlagen Alarm. Selbst die nordrhein-westfälischen Jobcenter warnten davor, dass Leistungsberechtigte immer öfter mit »Energiearmut« zu kämpfen hätten. Die Ausgabestellen der Hilfsorganisation Tafel mussten vielerorts ihr Angebot enorm einschränken und an immer mehr von ihnen gilt aufgrund der rasant steigenden Zahl von Hilfsbedürftigen ein Aufnahmestopp, weil deren Versorgung nicht mehr gewährleistet werden kann.

Wenig überraschend ist daher, dass auf den Demonstrationen am 1. Mai vor allem höhere Löhne gefordert wurden. Arbeitgeberverbände, unternehmernahe Ökonomen und viele Medien blasen jedoch bereits zum präventiven Angriff auf Gewerkschaften und Beschäftigte und mahnen in den anstehenden Tarifrunden zur Zurückhaltung bei Forderungen nach Lohnerhöhungen. Dabei argumentieren sie immer wieder mit der hierzulande vielzitierten Lohn-Preis-Spirale.

Tatsächlich lässt sich die Behauptung, höhere Löhne verstärkten die Inflation, weder empirisch noch ökonomisch belegen. Zunächst bräuchte es für die Durchsetzung von Lohnerhöhungen, die umfangreich genug wären, um tatsächlich Auswirkungen auf die Preisentwicklung zu haben, beinahe allmächtige Gewerkschaften. Nichts jedoch könnte weiter entfernt von der Wirklichkeit sein, sinkt doch seit Jahrzehnten der gewerkschaftliche Organisationsgrad – weniger als die Hälfte der Beschäftigten fällt hierzulande überhaupt unter einen Tarifvertrag. Ohnehin können Unternehmen aufgrund der Konkurrenz Preise nicht beliebig erhöhen.

Mit Blick auf die derzeitige Entwicklung scheint die Warnung vor der Lohn-Preis-Spirale besonders absurd. Der Grund für die wachsende Inflation lässt sich ziemlich eindeutig benennen: Es sind nicht die Löhne, sondern es ist der rasante Anstieg der Rohstoffpreise, insbesondere im Energiesektor, der die Preise auch in anderen Bereichen nach oben treibt.

Tatsächlich will, wer die Lohn-Preis-Spirale in Anschlag bringt, vor allem eines: Die Preissteigerungen auf die Lohnabhängigen abwälzen. Sie sollen »den Gürtel enger schnallen« beziehungsweise die Heizung herunterdrehen und einen Kaufkraftverlust hinnehmen. »Die fetten Jahre sind erst einmal vorbei«, sagte beispielsweise der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Rainer Dulger, der Tageszeitung Augsburger Allgemeine – freilich waren für die Beschäftigten bereits diese »fetten Jahre« nicht gerade üppig.

Das gilt jedoch selbstverständlich nicht für Kapitalbesitzer. Deren Renditen wachsen trotz Covid-19-Pandemie und Ukraine-Krieg nahezu unaufhaltsam. Der seit Jahren anhaltende Trend, dass die Kapitaleinkünfte hierzulande deutlich schneller steigen als die Arbeitseinkommen, setzt sich weiter fort. So planen die Dax-Konzerne, in diesem Jahr soviel Geld an ihre Aktionäre auszuschütten wie nie zuvor: 70 Milliarden Euro und damit doppelt soviel wie im vergangenen Jahr. Allein der bayerische Autokonzern BMW verfünffacht seine Ausschüttung im Vergleich zum Vorjahr, während die Beschäftigten bei ihren Lohnansprüchen doch bitte die schwierige wirtschaftliche Gesamtsituation berücksichtigen sollen.

Trotzdem bleiben politische und mediale Appelle an das Kapital, auf Gewinn zu verzichten, aus. Dass die Gewinnmargen der Unternehmen steigen müssen, erscheint als unumstößliches Naturgesetz. Während der Ruf nach »moderaten Lohnforderungen« und Gehaltsverzicht in Krisenzeiten Tradition hat, kämen die Herrschenden wohl kaum auf die Idee, Gewinnverzicht zu predigen, und eine Forderung an die Unternehmen, die Preise nicht anzuheben, um so die Lohn-Preis-Spirale zu durchbrechen, dürfte in den Vorstandsetagen wohl nur mit schallendem Gelächter quittiert werden.