Immer längere Arbeitswege führen bei Pendlern zu Stress und Gesundheitsproblemen
Die Zahl der Pendler steigt, die Strecken zum Arbeitsplatz werden immer länger. Das stresst und macht krank. Aber ohne grundlegende Veränderungen lässt sich das Problem nicht lösen.
Verschwendete Zeit, nutzlos, überflüssig. Wer Pendler nach ihrem täglichen Arbeitsweg fragt, hört meist von anstrengenden Wegen im Auto, in überfüllten Zügen und vom Warten auf kalten Bahnhöfen.
Trotzdem müssen immer mehr Lohnabhängige immer weitere Wege auf sich nehmen. Über die Hälfte aller Erwerbstätigen in Deutschland pendelt dem Statistischen Bundesamt zufolge täglich mehr als zehn Kilometer, ein Fünftel sogar mehr als 25 Kilometer. Vor vier Jahren erhobene Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) zeigen, dass die mittlere Pendlerstrecke in den Jahren davor um 21 Prozent länger geworden war. Zuvor seien es vor allem hochqualifizierte Beschäftige gewesen, die lange Arbeitswege zurücklegen mussten, doch hätten sich insbesondere die Pendlerstrecken von Beschäftigten mit niedrigen und mittleren Qualifikationen stark verlängert. Auch für schlechter bezahlte Jobs sei immer mehr Mobilität verlangt worden.
Nach Erhebung der Krankenkasse AOK pendeln etwa zehn Prozent ihrer Mitglieder mehr als 50 Kilometer. Dass gerade Krankenkassen intensiv zu Pendlerbewegungen in Deutschland forschen, ist naheliegend. Sich täglich durch den Berufsverkehr zu quälen, kostet nicht nur Zeit, sondern macht auch krank. Das zeigt beispielsweise eine Metastudie des Instituts für Betriebliche Gesundheitsberatung (IFBG), die für die Techniker-Krankenkasse 79 Studien zur Arbeitsmobilität ausgewertet hat. »Die Mehrheit der Studien zeigt: Je mehr Zeit das Pendeln in Anspruch nimmt, desto häufiger treten Stressempfinden, Ängste, Müdigkeit, Erschöpfung, Nervosität und Reizbarkeit auf, und desto geringer ist die Zufriedenheit mit der Work-Life-Balance und die gesundheitsbezogene Lebensqualität«, schreiben die Autoren. Die Fehltage wegen Depression und anderer psychischer Leiden sind bei Pendlern fast elf Prozent zahlreicher als bei wohnortnah Beschäftigten. Hinzu kommen körperliche Beschwerden. Pendler leiden signifikant häufiger unter Müdigkeit, Schlafstörungen, Magen-Darm-Beschwerden, Rücken- und Kopfschmerzen. Zudem haben sie ein erhöhtes Herzinfarkt- und Adipositas-Risiko. Sowohl die psychischen als auch die physischen Beschwerden werden dabei um so größer, je länger die Pendelstrecke ist.
»Wenn dein Arbeitsweg dauerhaft länger ist, kommt es vor allem auf eine positive Einstellung und etwas Kreativität an.« Ratschlag der Krankenkasse AOK
Allerdings kommt es nicht nur darauf an, wie lange man unterwegs ist, sondern auch wie. Während zahlreiche Studien zeigen, dass der Arbeitsweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum messbare gesundheitliche Folgen hat, lässt Autofahren sowohl das Stresslevel als auch die gesundheitlichen Beschwerden steigen. Trotzdem bleibt das Auto das mit Abstand wichtigste Beförderungsmittel auf dem Weg zu Arbeit. Gerade einmal 13 Prozent der Beschäftigten nutzen nach Angaben des Statistischen Bundesamts öffentliche Verkehrsmittel, um zur Arbeit zu kommen. Neun Prozent greifen auf das Fahrrad zurück oder gehen zu Fuß. Die überwiegende Mehrheit, 68 Prozent, fährt mit dem Auto zur Arbeit. Diese Zahlen haben sich – aller Werbung von Krankenkassen, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften für Alternativen zum Auto zum Trotz – in den vergangenen 20 Jahren kaum verändert.
Einzig in den deutschen Großstädten Hamburg, Berlin und München sind die Pendler mit eigenem Auto inzwischen in der Minderheit. Das liefert einen Hinweis darauf, warum die Mehrheit aller Pendler noch immer den Individualverkehr nutzt: In ländlichen Regionen, aber auch in Mittelstädten ist der öffentliche Nahverkehr schlicht nicht ausreichend ausgebaut. Es ist dabei weniger der Preis, der viele Pendler abschreckt, als die unzureichende Taktung oder der Mangel an brauchbaren Verbindungen. Für die meisten Pendler ist es schlicht nicht möglich, auf andere Verkehrsmittel umzusteigen, ohne noch mehr Freizeit zu verlieren.
Die Zeiten jedoch, in denen nur die Bewohner ländlicher Regionen genötigt waren, weite Wege in Kauf zu nehmen, um zur Arbeit zu gelangen, sind längst Geschichte. Das Maß der erzwungenen Mobilität wächst – und zwar für alle, egal ob sie in Städten oder auf dem Land leben. Dabei fließen immer größere Pendlerströme in beide Richtungen. Noch immer fahren zwar besonders viele zur Arbeit in die Metropolen. Nach München pendeln täglich mehr als 400 000 Menschen, nach Hamburg, Berlin und Frankfurt jeweils 300 000 Menschen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten stieg nach Angaben des IAB aber auch die Zahl der Lohnabhängigen, die in Städten wohnen und zur Arbeit aufs Land pendeln, um 38 Prozent. Gerade Industriebetriebe siedeln sich immer öfter in Vororten oder an Verkehrsknotenpunkten wie Autobahnen an.
Ein Beispiel für diese Entwicklung bietet die oberbayerische Marktgemeinde Holzkirchen. Rund 30 Kilometer von München entfernt und direkt an der A 8 gelegen, beherbergte der Ort einst vor allem Pendler in die bayerische Landeshauptstadt. Inzwischen hat sich der Trend umgekehrt: Die Zahl der Einpendler in den Ort übersteigt die Zahl der Auspendler. Immer mehr von ihnen kommen aus München in die Industriebetriebe, die sich in den vergangenen Jahren in Holzkirchen angesiedelt haben.
Während klar ist, dass mit länger werdenden Strecken die gesundheitlichen Beschwerden der Betroffenen zunehmen, liefern die zahlreichen Untersuchungen, die sich diesem Thema widmen, nur unzureichende Antworten darauf, wie man dem Problem begegnen könnte. Mediziner, Arbeitsmarktforscher und Krankenkassen belassen es meist bei guten Ratschlägen für die Betroffenen, die sie, ganz im Sinne der neoliberalen Denkweise, bei der Problemlösung einzig in der Pflicht sehen. »Die Beschäftigten haben mit ihrem Verhalten durchaus Einfluss darauf, wie belastend das Pendeln für sie wird und wie sie gegensteuern können«, schreibt exemplarisch Albrecht Wehner, ein Gesundheitsexperte der Techniker-Krankenkasse. Er empfiehlt Pendlern, auf eine gesunde Ernährung zu achten und sich, um das lange Sitzen im Auto auszugleichen, in der verbleibenden Freizeit ausreichend zu bewegen. Ähnlich argumentiert Utz Niklas Walter vom Institut für Betriebliche Gesundheitsberatung. »Den Belastungen können Berufspendler am besten durch eine Stärkung ihrer Ressourcen begegnen«, meint er und empfiehlt ausreichend Bewegung, Entspannung und Schlaf.
Von der größten gesetzlichen Krankenkasse, der AOK, heißt es: »Wenn dein Arbeitsweg dauerhaft länger ist, kommt es vor allem auf eine positive Einstellung und etwas Kreativität an.« Sie rät ihren Mitgliedern zu Atemübungen, die den Stresspegel senken, und zum Hören von Musik oder Hörbüchern während der Fahrt, um bessere Laune zu bekommen.
Über gesellschaftliche Ursachen der stetig wachsenden Pendlerströme spricht hingegen der Vorsitzende der Gewerkschaft IG BAU, Robert Feiger. Einen wesentlichen Grund für den täglichen »Pendlerwahnsinn« sieht er im Mangel an erschwinglichem Wohnraum. Dieser müsse dort entstehen, wo die Menschen auch arbeiten. Es brauche »rasch viel mehr Wohnungen, die sich auch Gering- und Normalverdiener leisten können – zu Quadratmeterpreisen zwischen 6,00 und 8,50 Euro kalt«, so Feiger. Zugleich fordert er, die Fördermittel für den sozialen Wohnungsbau deutlich aufzustocken.
Tatsächlich legen wohl nur die wenigsten freiwillig immer weitere Strecken auf dem Weg zur Arbeit zurück. Neben immer teureren Mieten in den boomenden Ballungszentren und der stadtplanerischen Entwicklung, dass viele Gemeinden sich mittlerweile nur noch auf einen der Schwerpunkte Arbeiten oder Wohnen konzentrieren, zwingt auch die neoliberale Umstrukturierung des Arbeitsmarkts der vergangenen Jahre immer mehr Leute zum Pendeln. So sind Leiharbeiter und Werkvertragsnehmer ständigen Arbeitsplatzwechseln ausgesetzt, und Beschäftigte mit einem befristeten Arbeitsvertrag überlegen zweimal, ob sich ein Umzug für sie lohnt, wenn sie vielleicht schon bald ganz woanders eine neue Stelle antreten müssen.
Lohnender als Atemübungen und andere individuelle Bewältigungsstrategien scheint es also zu sein, die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen, die immer mehr Menschen unter der Vorgabe von Flexibilität und Mobilität auf volle Straßen und in überfüllte Züge zwingt.