Ab in die Energiearmut

Inflation trifft vor allem die Armen

Durch die hohe Inflation verschärfen sich die sozialen Verteilungskämpfe wie schon lange nicht mehr.

Einmal mehr verkündete das Statistische Bundesamt eine Rekordinflation. Im Mai stieg die Teuerungsrate auf 7,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat und damit auf den höchsten Wert seit fast 50 Jahren – mit verheerenden sozialen Folgen. Für immer mehr Menschen wird die anhaltende Preissteigerung zur existentiellen Belastung.

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Wie immer, wenn dem Staatsvolk verdeutlicht werden soll, dass es nun zum Wohle der Nation den Gürtel enger zu schnallen habe, erklingt das kollektive »Wir«. »Wir werden dadurch ­ärmer werden«, sagte schon im April Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) mit Bezug auf die ökonomischen Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine. »Wir können auch mal frieren für die Freiheit«, hatte ­zuvor Bundespräsident a. D. Joachim Gauck wissen lassen. »Eine generelle Delle in unserem Wohlstandsleben ist etwas, was Menschen ertragen können«, so der Berufsprediger und Ehrensoldbezieher weiter.

Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte vergangene Woche: »Einen Kriegssoli wird es mit mir nicht geben.« Stattdessen brauche Deutschland »mehr Wachstums­impulse« und »mehr Überstunden«.

Allen Appellen an das nationale Kollektiv zum Trotz bestehen kaum Zweifel, wer die besagte Delle im »Wohlstandsleben« zu tragen hat: Vor allem diejenigen, die schon bisher kaum an diesem Wohlstand beteiligt waren. Mit einer Erhöhung der Steuern auf Vermögen oder hohe Einkommen ist nicht zu rechnen. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) sagte vergangene Woche: »Einen Kriegssoli wird es mit mir nicht geben.« Stattdessen brauche Deutschland »mehr Wachstumsimpulse« und »mehr Überstunden«.

Das sogenannte Entlastungspaket der Bundesregierung kann die enormen Preissteigungen nicht annähernd ausgleichen – zudem begünstigt es eher die gutverdienende Mittelschicht als Bedürftige. Ein Kernelement des Gesetzespakets ist eine einmalige Energiepreispauschale von 300 Euro für einkommensteuerpflichtige Beschäftigte. Ausgenommen hiervon sind also diejenigen, die wegen der stetig steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten besonders auf Unterstützung angewiesen sind: Millionen Rentner und Studierende erhalten den staatlichen Zuschuss ebenso wenig wie die meisten Auszubildenden und viele Geringverdiener.

Bezieher der Grundsicherung erhalten keine Energiepauschale, ihre Heizkosten zahlt ohnehin das Amt. Wegen der Belastungen durch Pandemie und Inflation sollen sie allerdings einen »Bonus« erhalten; zunächst waren nur 100 Euro vorgesehen, nun sollen es 200 Euro sein. Ob diese Einmalzahlung reichen wird, um die Inflation auszugleichen, darf bezweifelt werden. Für Hartz-IV-Empfängerinnen spitzt sich die Lage schon seit Monaten immer mehr zu. Zu Beginn des Jahres wurde die Grundsicherung trotz der auch damals schon hohen Inflation um gerade einmal drei Euro erhöht. Neben den Energiekosten sind die Preise für Lebensmittel in den vergangenen Monaten am stärksten gestiegen, auch das trifft Hartz-IV-Empfänger hart. So verteuerten sich Fleisch- und Wurstwaren im Mai erneut um 16,5 Prozent, Milchprodukte und Eier um 13,1 Prozent.

Sogar die Entlastung durch das Neun-Euro-Ticket wird Hartz-IV-Bezieherinnen in manchen Bundesländern vorenthalten. In Baden-Württemberg zum Beispiel können Jobcenter an Hartz-IV-Bezieher gezahlte Beträge für Schülertickets zurückfordern. Es handele sich dabei um eine »ungerechtfertigte ­Bereicherung«, weil die Schülertickets wegen des Neun-Euro-Tickets nicht ­gebraucht würden, hieß es vom baden-württembergischen Wirtschaftsministerium.

Niedriglohnbezieher leben besonders häufig in schlecht isolierten Wohnungen mit veralteten Heizsystemen. Gerade sie können den Aufrufen, Energie zu sparen, kaum nachkommen. Sie haben in der Regel keine Ersparnisse, und ihr verfügbares Einkommen erlaubt es ihnen nicht, ihren Kühlschrank, ihre Waschmaschine oder ihren Herd gegen ein sparsameres Modell auszutauschen. Für immer mehr Geringverdiener werden die steigenden Energiekosten zum Armutsrisiko. Schon im Pandemiejahr 2020 wurden 230 000 Verbrauchern der Strom und 24 000 das Gas abgestellt. Dieses Jahr werden es wohl deutlich mehr sein.

Immer mehr der rund 960 Lebensmitteltafeln in Deutschland melden, dass sie aufgrund des Ansturms in den vergangenen Monaten nicht mehr in der Lage sind, ihre Kunden ausreichend zu versorgen. Schon 2019 versorgten die Tafeln mehr als 1,6 Millionen Menschen. Seit einigen Monaten wird von steigenden Zahlen berichtet. An vielen Orten herrscht ein Aufnahmestopp, die Ausgabetage müssen reduziert und immer mehr Waren rationiert werden. Für viele, die bisher nur dank des billigen Einkaufs bei den Tafeln über die Runden ­kamen, ist das eine Kata­strophe.

Zugleich wächst die sogenannte Energiearmut unter Hartz-IV-Empfängern. Selbst die Jobcenter, sonst nicht gerade als Interessenvertretung für Erwerbslose bekannt, schlagen Alarm. Schon im März warnten die Leitungen der Jobcenter aus Nordrhein-Westfalen in einem gemeinsamen Brief an Bundesarbeitsminister Hubertus Heil vor den Folgen. Vor allem die steigenden Stromkosten, die von den Ämtern nicht direkt übernommen werden, sondern im Regelsatz durch eine Pauschale von 38,07 Euro pro Monat für »Wohnen, Energie, Wohninstandhaltung« abgedeckt werden, könnten dem Schreiben zufolge viele Leistungsbezieher in existentielle Nöte stürzen. Im Laufe dieses Jahres würden »immer mehr Leistungsbeziehende von Energiearmut in einem bisher nicht gekannten Ausmaß betroffen sein«, so die Leitungen der Jobcenter.

Im Oktober wird zwar der Mindestlohn auf zwölf Euro erhöht, doch ist das inzwischen kaum mehr als ein Inflationsausgleich. Unter den gegebenen Umständen sind zwölf Euro pro Stunde sowieso ein Armutslohn, der zudem direkt in die Altersarmut führt. Wer beispielsweise 40 Jahre lang 38,5 Stunden pro Woche gearbeitet hat, muss nach Berechnungen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung mindestens 13,45 Euro pro Stunde verdient haben, um Rentenansprüche oberhalb der Grundsicherung zu erwerben.

Tatsächlich bräuchte es, um der Entwertung der Arbeitseinkommen entgegenzuwirken, erhebliche Lohnsteigerungen. Diesen Herbst stehen Lohnverhandlungen in den zwei bedeutendsten Leitbranchen an, die auch für andere Wirtschaftsbereiche maßgeblich sind: in der Metall- und Elektroindustrie mit 3,8 Millionen Beschäftigten und für die 2,3 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst der Kommunen und des Bundes.

Arbeitgeberverbände, Medien und die Politik machen daher bereits jetzt präventiv Stimmung gegen Lohnerhöhungen. Sie berufen sich dabei ins­besondere auf die sogenannte Lohn-Preis-Spirale, also die Theorie, dass steigende Löhne zu noch mehr Inflation führen würden. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat unterdessen Anfang Juni angekündigt, die anstehenden Lohnrunden durch eine »Konzertierte Aktion«, also Absprachen zwischen ­Kapital, Arbeit und Regierung, managen zu wollen. Scholz schlug nun eine Einmalzahlung für Angestellte vor, die für Arbeitgeber steuerfrei sein soll. Im Gegenzug sollen sich die Gewerkschaften bei Lohnforderungen zurückhalten. Doch sowohl der DGB wie der Arbeitgeberverband zeigten sich skeptisch und pochten auf die Tarifautonomie.

Die Warnung vor vermeintlich zu hohen Lohnforderungen ist in der ­derzeitigen Lage besonders abwegig, lässt sich der Grund für die derzeitige Inflation doch eindeutig benennen: Es sind nicht die seit Jahren stagnierenden Löhne, sondern es ist der rasante Anstieg der Rohstoffpreise, insbesondere im Energiesektor, der die Preise auch in anderen Bereichen nach oben treibt.

Womöglich mit Blick auf die anstehenden Tarifrunden mahnte Rainer Dulger, der Präsident der Bundes­ver­einigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, schon im April: »Die fetten Jahre sind erst einmal vorbei.« Doch das gilt selbstverständlich nicht für die Kapitaleigner. Deren Renditen wuchsen trotz Covid-19-Pandemie und der Folgen des Ukraine-Kriegs unaufhaltsam weiter. So planen die Dax-Konzerne, in diesem Jahr so viel Geld an ihre Aktionäre auszuschütten wie nie zuvor: 70 Milliarden Euro und damit 50 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. In vielen Branchen – wie dem Internethandel, der Logistikbranche oder dem Lebensmittelhandel – verzeichneten Unternehmen zuletzt Rekordgewinne.

Das Einzige, das in den zurückliegenden zwei Jahren ähnlich schnell gestiegen ist wie die Inflation, ist das Gesamtvermögen der US-Dollar-Millionäre in Deutschland. 2021 wuchs es um 7,4 Prozent. Das Vermögen der zehn reichsten Personen in Deutschland ist seit Beginn der Pandemie von rund 144 Milliarden auf etwa 256 Milliarden US-Dollar gewachsen.

Steuerliche Maßnahmen, mit denen diese Krisengewinne für die Unterstützung von ärmeren Haushalten genutzt werden könnten, zum Beispiel eine Vermögenssteuer, schließt der Koalitionsvertrag aus. Zudem sieht er vor, schnellstmöglich zur wegen der Covid-19-Pandemie ausgesetzten sogenannten Schuldenbremse zurückzukehren.

Das ist das Herzensanliegen von Finanzminister Christian Lindner (FDP). Er kündigte an, die Regel schon nächstes Jahr wieder in Kraft zu setzen. Der Aufnahme neuer Schulden, um die ­Krisenfolgen abzufedern, wären dann enge Grenzen gesetzt. In der Krise müsse der Staat zwar handeln, so Lindner im März zur Begründung, doch nach der Krise stehe die »Rückkehr zur Normalität« an, das sei das »haushaltspolitische Ziel der Bundesregierung«. Das darf durchaus als Drohung verstanden werden. Denn zur Normalität in Deutschland gehört es, die Krisenkosten auf die Armen abzuwälzen.

Erschienen in Jungle World 26/2022