Die große Sortiermaschine

Die soziale Mobilität in Deutschland schwindet

In Deutschland wird der soziale Aufstieg schwieriger. Arme bleiben arm, ihre Kinder haben angesichts des selektiven Bildungssystems immer weniger Chancen auf einen größeren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum.

Jeder und jede kann den gesellschaftlichen Aufstieg schaffen, wenn er oder sie sich nur genug anstrengt. So in etwa lautet das Glücksversprechen der bürgerlichen Gesellschaft. Kaum etwas stärkt die Bindung an die herrschende Ordnung so sehr wie die Hoffnung, doch irgendwann vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden. Eingelöst wurde dieses Glücksversprechen zwar nie, doch der Traum lebt weiter. Der neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt nun, dass die sogenannte soziale Mobilität nachlässt und damit die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs in Deutschland immer geringer werden. Wer einmal arm ist, bleibt tendenziell arm; Angehörige mittlerer Einkommensgruppen sind vom Abstieg bedroht. Nur wer ein wirklich hohes Einkommen hat, kann sich sicher sein, wohlhabend zu bleiben.
Der Verteilungsbericht vergleicht die Prozesse des gesellschaftlichen Auf- und Abstiegs in den Fünfjahreszeiträumen 1991 bis 1995 und 2009 bis 2013. Um die Aufstiegschancen zu analysieren, teilten die Forscher die Bevölkerung in sechs Gruppen auf, je nach Verhältnis ihres verfügbaren Nettoeinkommens zum Medianeinkommen. Dieses bezeichnet das mittlere Einkommen aller Haushalte in Deutschland und liegt bei einem Einpersonenhaushalt derzeit bei 19 597 Euro netto im Jahr. Zudem gibt es die »sehr einkommensreichen« Menschen, deren Einkommen mehr als dreimal höher liegen als das Medianeinkommen. Daneben enthält diese Klassifizierung »Einkommensreiche«, »Wohlhabende«, »obere Mitte«, »untere Mitte« und »Arme«. Als »einkommensreich« gelten dabei Menschen mit dem Doppelten bis Dreifachen des mittleren Einkommens, als arm diejenigen, die über weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verfügens.
Während es zwischen 1991 und 1995 noch etwa 59 Prozent der Menschen aus der als arm klassifizierten Gruppe innerhalb von fünf Jahren gelang, in eine höhere Einkommensklasse aufzusteigen, schaffen das inzwischen nur noch 50 Prozent. Der Hälfte der Armen gelingt es also nicht, innerhalb von fünf Jahren aus der Armut herauszukommen. Auch für Personen unmit­telbar über der Armutsgrenze sind die Aufstiegschancen gesunken, während ihr Risiko, in Armut abzurutschen, gewachsen ist.
Umgekehrt ist die Entwicklung bei Menschen mit hohem Einkommen. Zwischen 1991 und 1995 konnten sich etwa 50 Prozent der »sehr Einkommensreichen« in der obersten Einkommensklasse halten. Von 2009 bis 2013 stieg der Anteil derer, die sich dort behaupten konnten, auf fast 60 Prozent. »Die Verfestigung der Armut ist besonders problematisch«, sagt Dorothee Spannagel, Referatsleiterin für »Verteilungsanalyse und Verteilungspolitik« am WSI. »Aus der Forschung wissen wir: Je länger eine Armutssituation andauert, desto stärker schlägt sie auf den Alltag durch. Insbesondere für Kinder wirkt sich lange Armut nachhaltig negativ aus.«
Zum bürgerlichen Glücksversprechen gehört auch, dass nicht die Herkunft über den sozialen Auf- oder Abstieg entscheidet, sondern die Leistung des Einzelnen. Die Ergebnisse der Untersuchungen des WSI dagegen zeigen etwas anderes: Kinder, die in armen Familien geboren werden, bleiben auch arm.
Das hat seine Ursache nicht zuletzt im hochgradig selektiven Bildungssystem. Bildung sei in Deutschland »stark vom sozialen Hintergrund des Elternhauses abhängig« – und damit auch die soziale Stellung, die die Kinder später einnähmen, so Spannagel. In der WSI-Studie wird das Schulsystem als »große Sortiermaschine« bezeichnet, die Kindern ihren späteren Platz in der Gesellschaft zuweise. Anders als noch in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik können jedoch selbst gutsituierte Eltern inzwischen nicht mehr davon ausgehen, dass es ihren Kindern materiell einmal besser gehen wird als ihnen selbst. Denn auch das Risiko, im Vergleich zu den Eltern sozial abzusteigen, ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich größer geworden.
Auch die Ungleichheit der Einkommensverteilung hat einen neuen Höchstwert erreicht. »Bei der Einkommensungleichheit«, sagt Anke Hassel, wissenschaftliche Direktorin des WSI, »haben wir sogar den bisherigen Höchststand aus dem Jahr 2005 überschritten«. Noch drastischer fällt die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung aus. Deutschland ist in der Euro-Zone nach Österreich das Land mit der größten Vermögensungleichheit.
Die Wissenschaftler empfehlen, vor allem indirekt entgegenzuwirken. So steht eine stärkere Förderung von sozial Benachteiligten in der Bildung und am Arbeitsmarkt im Mittelpunkt der vorgeschlagenen Maßnahmen. Durch Weiterbildungs- und Beratungsangebote sollen Geringqualifizierte unterstützt werden. Reformen im Bildungssystem, darunter die gezielte früh­kindliche Förderung von Kindern aus sozial benachteiligten Familien, sollen die Chancengleichheit im Bildungsbe­reich verbessern. Daneben ­plädieren die Autoren des Berichts für eine Umverteilung der Einkommen und Vermögen über das Steuersystem. Die Vermögens- und Schenkungssteuer sollen angehoben und die seit 1997 ausgesetzte Vermögenssteuer wieder eingeführt werden, so die Wissenschaftler.
Dass niedrige Einkommen ihre Ursache jedoch vor allem in niedrigen ­Löhnen haben, spielt für die Forscher anscheinend nur eine untergeordnete Rolle. Dabei sind es vor allem schlecht bezahlte Jobs in Leiharbeit oder mit und Werkverträgen sowie andere prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie Minijobs, die in die Armut führen. So waren 1996 noch die Löhne von 82 Prozent aller Arbeitnehmer mit Tarifverträgen geregelt, während es heutzu­tage nur noch 57 Prozent sind. Die Zahl der Leiharbeiter ist in dieser Zeit hingegen auf fast eine Million Menschen angewachsen.

Erschienen in: Jungle World 47/2016, vom 24.11.2016