The working class is back

Stefan Dietl über die neu erwachte Kampfkraft der britischen Gewerkschaften.

Trotz aller medialen Warnungen vor einem »heißen Herbst« ist es hierzulande erstaunlich ruhig auf den Straßen. So folgten im September nur etwas mehr als 30.000 Menschen dem Aufruf des ÖGB, in allen Bundesländern gegen die wachsende Teuerung auf die Straße zu gehen. Auch im benachbarten Deutschland führt die rasante Inflationsentwicklung kaum zu Protesten. Ein gemeinsamer Aktionstag von Gewerkschaften, Umweltorganisationen und Sozialverbänden am 22. Oktober in sechs deutschen Großstädten verzeichnete gerade einmal 20.000 Teilnehmer. Gewerkschaftliche Massendemonstrationen oder gar kontinuierliche Arbeitsniederlegungen gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die Lohnabhängigen bleiben bisher sowohl in Österreich als auch in Deutschland aus.

Anders in Großbritannien. Das Vereinigte Königreich erlebt seit dem Sommer die größten und härtesten Arbeitskämpfe seit der Thatcher-Ära und der historischen Niederlage der britischen Gewerkschaftsbewegung im Bergarbeiterstreik 1984/85. Hunderttausende haben in den vergangenen Wochen bereits die Arbeit niedergelegt. Die Streikwelle hat inzwischen beinahe alle britischen Wirtschaftszweige erfasst und immer wieder stehen über Stunden oder Tage weite Teile der britischen Infrastruktur still. Den Anfang machten dabei im Juni die Bahnarbeiter der Transportgewerkschaft RMT (National Union of Rail, Maritime and Transport Workers). Seit Monaten sorgen die rund 40.000 Streikenden im intensivsten Arbeitskampf seit Jahrzehnten für tageweisen Stillstand auf den britischen Gleisen.

Es kommt einem vor, als hätte die britische Arbeiterbewegung auf dieses Fanal nur gewartet. Während die konservative Regierung mit wütenden Reaktionen der betroffenen Fahrgäste rechnete und versuchte, diesen Hass gezielt zu schüren, erfuhren die Streikenden eine unerwartete Welle der Solidarität. Statt bedroht zu werden, wie noch in der Vergangenheit, werden Streikposten um Fotos gebeten und ihnen Essen und Trinken angeboten. Laut Umfragen unterstützen 45 Prozent der Britinnen und Briten die Forderungen der Eisenbahner. In kürzester Zeit avancierte der dem linken Flügel der Gewerkschaftsbewegung zugerechnete RMT-Generalsekretär Mick Lynch zur nationalen Berühmtheit und zur Symbolfigur für das neue Selbstbewusstsein der britischen Arbeiterklasse. Videos von seinen kämpferischen und unnachgiebigen Auftritten in Talk-Shows und Interviews wurden in sozialen Netzwerken massenhaft geteilt. Inzwischen hat sich ein regelrechter Personenkult um Lynch eingestellt. Sein Porträt, versehen mit der Aufschrift »Mick Lynch – Held der Arbeiterklasse«, findet sich nicht nur an Häuserwänden, sondern auch auf Teetassen und T-Shirts.

Kurz darauf folgten die Beschäftigten der Royal Mail dem Beispiel der Bahnbeschäftigten. 115.000 Postler traten zum ersten Mal seit 13 Jahren in den Streik. Alleine im Oktober und November streikte die Communications Workers Union (CWU) 19 Mal. Der Streikwelle angeschlossen haben sich inzwischen auch Busfahrer, Lehrer, Hochschulmitarbeiter, Pflegekräfte, Journalisten oder Rechtsanwälte. Selbst in Bereichen, die in der Vergangenheit kaum von Arbeitskämpfen betroffen waren, kommt es zu Arbeitsniederlegungen. So traten Callcenter-Beschäftigte und Techniker der British Telecom zum ersten Mal überhaupt in den Streik. Auch Sektoren, die lange als befriedet galten, da sie aufgrund ihrer hohen gewerkschaftlichen Organisierung und zugleich wichtigen Stellung im Produktionsprozess mit vergleichsweise hohen Löhnen ruhig gestellt wurden, schlossen sich der neuen Streikfront an. Beispielsweise die Hafenarbeiter im größten Containerhafen Großbritanniens Felixstowe, in dem täglich 10.000 Container abgewickelt werden und über den fast die Hälfte aller Waren ins Land kommt. 1900 Docker legten dort zum ersten Mal seit 1989 die Arbeit nieder. Ebenso wie ihre rund 600 Kolleginnen und Kollegen in Liverpool, die nach ersten Streiks im September im Oktober erneut für zwei Wochen in den Ausstand traten.

Begleitet werden die größten Arbeitsniederlegungen der jüngeren britischen Geschichte von einer breiten gesellschaftlichen Kampagne. Bereits im August riefen kämpferische Gewerkschaften, der linke Flügel der Labour Party, Sozialverbände und lokale Initiativen für bezahlbaren Wohnraum das Bündnis »Enough is Enough« ins Leben. 800.000 Unterstützer hat der Aufruf der Kampagne seither gefunden und es gelang, Zehntausende zu Solidaritätsdemonstrationen für die Streikenden zu mobilisieren. Als sich am 1. Oktober fast 200.000 Beschäftigte – von der Bahn, der Post bis zu den Universitäten – gleichzeitig im Streik befanden, wurden die Arbeitsnieder-legungen von Solidaritätsdemonstrationen und -kundgebungen in mehr als 50 Städten begleitet. Auch die Klimabewegung mobilisierte für den 1. Oktober zur Unterstützung der gewerkschaftlichen Kämpfe. Es war der größte koordinierte Protest in Großbritannien seit Jahren.
An diesem Aktionstag beteiligte sich auch die Kampagne »Don‘t Pay«, die dazu aufruft, aufgrund der steigenden Kosten keine Energiere-chnungen mehr zu bezahlen und in der sich binnen kurzer Zeit 200.000 Menschen zusammengeschlossen haben. Die Kampagne schließt an die im angelsächsischen Raum verankerte Tradition der Verbraucherstreiks an und hat insbesondere den Widerstand gegen die 1990 unter Margaret Thatcher geplante Kopfsteuer zum Vorbild. Für die regierenden Konservativen ein schlechtes Omen. Die damalige Kampagne führte nicht nur dazu, dass die Steuerpläne letztlich begraben werden mussten, sondern leistete auch einen wesentlichen Beitrag zum Sturz von Margaret Thatcher.

Regierung wie auch Unternehmen wurden von der massiven Streikwelle und der Rückkehr der Arbeiterbewegung in die gesellschaftliche und politische Öffentlichkeit sichtlich überrascht. Um den sich immer mehr ausweitenden Arbeitskämpfen Einhalt zu gebieten, greift die geschwächte konservative Regierung auf drastische Maßnahmen zurück und will mittels Repressionen und der Einschränkung gewerkschaftlicher Rechte ihre Handlungsfähigkeit wiederherstellen.
Schon heute gibt es kaum ein Land in Europa, in dem Streikmaßnahmen so strikt gesetzlich reguliert sind wie in Großbritannien. Nun blasen die Konservativen zum Generalangriff auf die Gewerkschaften. Bereits im Sommer wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Einsatz von Zeitarbeitern als Ersatz für streikende Arbeiter erlaubt und die Geldstrafe für »rechtswidrige« Streiks auf eine Million Pfund vervierfacht. Auch der Einsatz von Streikposten wurde strenger geregelt.

Mit einem erneuten Gesetzespaket sollen nun Streiks im Verkehrswesen drastisch eingeschränkt werden. Künftig müssen Gewerkschaften auch bei Arbeitsniederlegungen eine Mindestversorgung sicherstellen. Es darf also zwar formal weiterhin gestreikt werden, nur die Züge müssen
trotzdem rollen.
Auch Postdienste, der Energiesektor, Schulen und andere Teile des öffentlichen Dienstes soll die Neuregelung betreffen. Streikende können zudem leichter gekündigt werden, wenn sie an Arbeitskämpfen teilnehmen. Daneben soll die Zeitspanne zwischen einem Urabstimmungsbeschluss und dem ersten Streiktag verlängert werden und durch eine verpflichtende »Abkühlungsperiode« der Zeitraum zwischen zwei Streikmaßnahmen gesetzlich geregelt werden.
Eine effektive gewerkschaftliche Organisierung wird so praktisch unmöglich gemacht.

Entsprechend scharf fällt der Widerspruch der Gewerkschaften aus. Mick Lynch spricht vom »größten Angriff auf die Bürgerrechte seit der Legalisierung von Gewerkschaften im Jahr 1871«. »Dieses zynische Gesetz verbietet wirksame legale Arbeitskampfmaßnahmen unserer Eisenbahner. Alle Demokraten, ob innerhalb oder außerhalb des Parlaments, müssen sich diesem drakonischen Versuch widersetzen, gegen das grundlegende Menschenrecht auf Streik vorzugehen«, so Lynch. Die Maßnahmen der Regierung beantwortete er mit der Ankündigung von drei weiteren nationalen Streiktagen im November, in dem im ganzen Land die Bahnen stillstehen sollen und rief »alle Arbeiter in Großbritannien auf, den erbittertsten zivilen Widerstand zu leisten, in der stolzen Tradition der Chartisten und Suffragetten.«
Statt die Streikfront zu brechen, scheinen die Maßnahmen der Regierung derzeit das Gegenteil zu bewirken und dazu beizutragen, die Arbeitskämpfe noch stärker auszuweiten.
Während sich die britischen Gewerkschaften auf die größte soziale Machtprobe seit Jahrzehnten vorbereiten und die vielfältigen Proteste gegen die Krisenpolitik der Tories immer mehr zur sozialen Bewegung zusammenwachsen, ist die oppositionelle Labour Party faktisch auf Tauchstation gegangen. Trotz zahlreicher Aufforderungen aus dem gewerkschaftlichen Lager schwieg die Labour-Führung um Parteichef Keir Starmer monatelang. Auch auf den Demonstrationen und Streikkundgebungen zeigten sich Starmer und Co. nicht. Immer wieder forderte der Labour-Chef hingegen dazu auf, die Streiks zu beenden und erteilte auch grundlegenden Sozialreformen zur Bekämpfung der Inflation – die er als »Geldzauberbaum-Ökonomie« verunglimpfte – eine Absage.
Dies führt zu wachsenden Konflikten zwischen Labour und den Gewerkschaften.
Ursprünglich aus den Gewerkschaften gegründet, sind die Verbindungen zur Labour Party traditionell eng. Auch die gewerkschaftliche Linke versteht sich ganz selbstverständlich als Teil von Labour. Angesichts des wirtschaftspolitischen Rechtskurses von Starmer drohen jedoch Teile der Gewerkschaften mit einem Ende der Finanzierung der Partei oder kündigen ihr Fernbleiben von Parteitagen an. Sollte sich Labour beim Konflikt um die neuen Anti-Streik-Gesetz nicht vehement an die Seite der Gewerkschaften stellen, scheint selbst ein vollständiger Bruch von Teilen der Gewerkschaftslinken mit Labour nicht mehr ausgeschlossen.

Statt auf eine politische Interessenvertretung durch die Labour Party setzen immer mehr auf die eigene gewerkschaftliche Organisations- und Kampfkraft. Die zunehmend über verschiedene Branchen hinweg koordinierten Arbeitsniederlegungen und der Kampf gegen die Einschränkungen des Streikrechts könnten eine neue Phase des Klassenkampfes in Großbritannien einleiten. Selbst ein politischer Streik scheint nicht mehr ausgeschlossen. So drängen Lynch und andere prominente Gewerkschafter den gewerkschaftlichen Dachverband Trade Union Congress (TUC) zur Ausrufung des Generalstreiks. Es wäre der erste seit beinahe 100 Jahren. 1926 traten die britischen Lohnabhängigen zum ersten und einzigen Mal in den Generalstreik. Allem Anschein nach ist die Arbeiterklasse nicht nur wieder zum Subjekt des Geschehens geworden, sondern sie versteht sich auch wieder als solches. Auf einer Kundgebung der Kampagne »Enough is Enough« brachte Mick Lynch dieses neue Verständnis auf den Punkt: »Die Arbeiterklasse ist zurück. Wir weigern uns, sanftmütig zu sein, wir weigern uns, demütig zu sein, wir weigern uns, auf Politiker und Politikerinnen zu warten – und wir weigern uns, weiterhin arm zu sein.«

 

Erschienen in VersorgerIn #136