Ukrainer*innen landen überwiegend in prekären Arbeitsverhältnissen – dagegen wächst Widerstand unter den Geflüchteten
Millionen Menschen befinden sich seit dem russischen Überfall auf die Ukraine auf der Flucht. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR geht von 8,3 Millionen Ukrainer*innen aus, die bisher ihre Heimat verlassen mussten. 80 Prozent davon Frauen. Die meisten von ihnen harren in der Hoffnung auf baldige Rückkehr in den direkten Nachbarländern der Ukraine aus, insbesondere in Polen. Jedoch suchen auch in Deutschland etwa eine Million ukrainischer Geflüchteter Schutz vor Putins Krieg.
Ihre Lebensbedingungen unterscheiden sich fundamental von denen anderer Schutzsuchender. Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan oder Somalia müssen sich – sofern es ihnen überhaupt gelingt die abgeriegelten Grenzen zu überwinden – durch ein nervenaufreibendes, zeitaufwendiges, bürokratisches und oftmals unmenschliches Asylverfahren kämpfen, bei dem sie individuell ihre Fluchtgründe erläutern und glaubhaft machen müssen. Ein Verfahren, das Monate oder gar Jahre dauert und während dem ständig das Damoklesschwert der drohenden Abschiebung über ihnen schwebt.
Zweigeteiltes Asylsystem
In dieser Zeit heißt es für sie oft Sammellager, keinerlei Privatsphäre, unzureichende medizinische Versorgung, beschränkter Zugang zu Sozialleistungen durch das Asylbewerberleistungsgesetz, behördliche Willkür und oft ein jahrelanger erbitterter Kampf um die Erlaubnis zur Aufnahme von Arbeit, die dann meist auch nur eingeschränkt gewährt wird.
Am Ende dieser Tortur steht für viele nur eine Duldung und ein eingeschränkter Schutzstatus mit erneut eingeschränktem Zugang zu Sozialleistungen und zum Arbeitsmarkt, verbunden mit der ständigen Angst, doch noch abgeschoben zu werden.
Anders die Situation ukrainischer Geflüchteter. Sie dürfen visumsfrei in die Europäische Union einreisen und ihren Aufenthaltsort frei wählen. Dank der Regelungen der EU erhalten sie kollektiv und ohne individuelles Asylverfahren eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Sie dürfen sich sofort selbst eine Wohnung suchen und haben uneingeschränkten Zugang zum Bildungssystem, zum Gesundheitssystem und zu Sozialleistungen. Seit dem Sommer erhalten sie bei Bedarf – wie alle anderen Menschen in Deutschland auch – Grundsicherung, also Leistungen nach dem SGB II bzw. XII und damit deutlich höhere Unterstützung als auf Basis des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Vieles, was von Flüchtlingsorganisationen seit Jahren für alle Schutzsuchenden in Deutschland gefordert wird, ist für Geflüchtete aus der Ukraine damit Realität. Dies wirkt sich direkt sowohl auf die Lebensbedingungen als auch auf die Wahrnehmung der Betroffenen aus. So gaben bei einer repräsentativen Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit die deutliche Mehrheit der ukrainischen Geflüchteten an, sich in Deutschland willkommen zu fühlen. Laut der Studie war dies bei etwa einem Drittel der Neuankömmlinge voll und ganz der Fall. 43 Prozent fühlen sich überwiegend willkommen. Eine Erfahrung, die Geflüchtete aus anderen Ländern nur selten machen.
Andere rechtliche Rahmenbedingungen herrschen für Ukrainer*innen auch in Bezug auf den Zugang zum Arbeitsmarkt. Im Gegensatz zu anderen Schutzsuchenden dürfen sie jederzeit und ohne Zustimmung des Arbeitsamtes eine Arbeit aufnehmen oder als Selbstständige tätig sein. Sie haben dabei auch Anspruch auf die Unterstützung der Arbeitsagentur bei der Arbeitssuche und -vermittlung.
Der erleichterte Zugang zu Sozialleistungen und zum Arbeitsmarkt verhindert jedoch nicht, dass die viel gerühmte Integration der ukrainischen Geflüchteten in den deutschen Arbeitsmarkt vor allem in prekäre und besonders ausbeuterische Arbeitsverhältnisse erfolgt.
Anwerbung auf Hochtouren
Es sind wenig überraschend vor allem Branchen, die aufgrund der dort vorherrschenden prekären Arbeits- und Lohnbedingungen seit Langem über einen Mangel an Arbeitskräften klagen, in denen die Anwerbung ukrainischer Neuankömmlinge auf Hochtouren läuft. Nicht selten getarnt als vermeintlich humanitärer Akt.
Hotelbesitzer*innen schalten Stellenanzeigen auf Ukrainisch und bieten neben einem Arbeitsplatz auch gleich eine Unterkunft an, Restaurants werben mit kostengünstiger Versorgung um ukrainische Arbeitskräfte und eine Berliner Friseurkette damit, neue Mitarbeiter*innen zusätzlich bei Sprachproblemen zu unterstützen. Auch Paketzusteller, Speditionsdienste oder Reinigungsfirmen versuchen gezielt ukrainische Geflüchtete anzusprechen. Ehrenamtliche Flüchtlingshelfer*innen berichten zudem immer öfter auch von dubiosen Angeboten und Anwerbeversuchen direkt in den Notunterkünften.
Schlagzeilen machten bereits zu Beginn des russischen Angriffskrieges die Rekrutierungsmethoden des größten deutschen Fleischproduzenten Tönnies. Dessen Anwerber*innen standen nur Tage nach Ausbruch des Krieges an der polnische-ukrainische Grenze bereit, um Geflüchtete zur Arbeit in Europas größter Schlachtfabrik in Rheda-Wiedenbrück zu gewinnen. Seit der harschen öffentlichen Kritik an diesem Vorgehen und dem Vorwurf aus der Not von Kriegsflüchtlingen Profit zu schlagen, verlagerten Tönnies und andere Fleischkonzerne ihre Anwerbebemühungen in die sozialen Medien und nutzen insbesondere ukrainische Facebook- und Telegram-Gruppen für Stellenanzeigen.
Damit sind sie nicht allein. Auch private Pflegeagenturen versuchen auf diesem Weg ukrainisches Personal zu gewinnen. Vor allem Anbieter in der häuslichen Pflege werben digital um neue Arbeitskräfte. So berichtet das Projekt MB 4.0, das migrantische Pflegekräfte in sozialen Medien arbeitsrechtlich berät, von einem deutlichen Anstieg von Stellenanzeigen in ukrainischen Facebook-Gruppen. Laut MB 4.0 werden dabei Löhne weit unterhalb des Mindestlohns geboten. Viele der Stellenangebote deuten außerdem auf eine Scheinselbstständigkeit hin.
Den gerade angekommenen Geflüchteten bleibt oftmals keine andere Möglichkeit, als im Niedriglohnsektor ein Auskommen zu suchen. Zwar zeigen Studien, dass viele der in Deutschland Schutz suchenden Ukrainer*innen gut ausgebildet sind – so verfügen laut einer repräsentativen Befragung des ifo-Instituts mehr als 85 Prozent der Zugewanderten über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder einen Hochschulabschluss – allerdings sind die Hindernisse, eine reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu finden, dennoch hoch.
So sprechen zwar viele Ukrainer*innen mehrere Sprachen, nur die wenigsten jedoch deutsch. Bei der Befragung des ifo-Instituts gaben lediglich fünf Prozent der Schutzsuchenden an, über gute Deutschkenntnisse zu verfügen. Sprachkurse sind derzeit Mangelware. Zudem verfügen viele der Geflüchteten über eine Berufsausbildung in Sektoren, die eine Anerkennung des ausländischen Abschlusses in Deutschland erfordern, um regulär tätig zu sein. Zum Beispiel als Lehrer*in, Erzieher*in oder in zahlreichen medizinischen Berufen. Aufgrund der langen Wartezeiten dauert eine solche Anerkennung derzeit Monate. Vielen bleibt daher nur die Arbeit im Niedriglohnsektor.
Darüber, wie ihre Chancen am deutschen Arbeitsmarkt stehen, machen sich die meisten Ukrainer*innen keine Illusionen. Etwa die Hälfte gibt an bereit zu sein, auch unterhalb ihres eigentlichen Qualifikationsniveaus zu arbeiten.
Voraussetzungen, die deutsche Unternehmen zum Lohndumping zu nutzen wissen. Etwa ein Drittel der Schutzsuchenden aus der Ukraine die bisher eine Arbeit aufgenommen haben, schuftet im Niedriglohnsektor und ihr Arbeitsalltag ist geprägt von Lohndumping, Arbeitszeitbetrug und unsicheren Arbeitsverhältnissen. Nicht wenige müssen sich in undokumentierter Beschäftigung oder als Scheinselbstständige über Wasser halten.
Selbstorganisation und Vernetzung
Sowohl die unzureichenden Sprachkenntnisse der Betroffenen als auch deren mangelnde Kenntnisse des deutschen Arbeitsrechts erleichtern es Unternehmen, gesetzliche Normen wie das Arbeitszeitgesetz oder das Mindestlohngesetz zu umgehen. Trotzdem regt sich immer öfter Widerstand gegen besonders ausbeuterische Arbeitsbedingungen. So legten zuletzt ukrainische Arbeitskräfte einer Reinigungsfirma in München kollektiv die Arbeit nieder, um ausstehende Löhne zu erhalten. Bei einem Speditionsunternehmen in Hessen kam es zu einem ähnlichen Ausstand, nachdem ukrainische Beschäftigte monatelang unbezahlte Überstunden leisten mussten.
Ukrainische Arbeitskräfte einer Reinigungsfirma in München legten kollektiv die Arbeit nieder, um ausstehende Löhne zu erhalten.
Auch das Scheitern der Rekrutierungsversuche von Tönnies an der polnisch-ukrainischen Grenze ist nicht nur der medialen Kritik an diesen Methoden zuzuschreiben, sondern vor allem dem Umstand, dass ukrainische Geflüchtete gemeinsam mit Unterstützer*innen die Anwerber*innen des europaweit für seine gnadenlosem Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft bekannten Fleischkonzern lautstark verjagten.
Wesentlich für den wachsenden Widerstand gegen prekäre Beschäftigung ist dabei die zunehmende Vernetzung unter den Betroffenen. Gerade in ukrainischen Facebook- und Telegram-Gruppen findet ein reger Austausch über die Arbeitsbedingungen in verschiedenen Branchen statt und es wird vor besonders ausbeuterischen Unternehmen gewarnt. Die diversen Stellenanzeigen bleiben selten unkommentiert, stattdessen teilen Betroffene ihre jeweiligen Erfahrungen mit dem Unternehmen. Immer öfter finden sich auch Hinweise zum deutschen Arbeitsrecht in den entsprechenden Foren und Tipps dazu, wie man seine Rechte durchsetzen kann.
Eine Schlüsselrolle kommt dabei gewerkschaftlichen Beratungsstellen wie Faire Mobilität oder Faire Integration zu. Schon früh richteten gewerkschaftliche Beratungsstellen eigene Hotlines für ukrainische Arbeitskräfte ein, veröffentlichten Informationsmaterialien zum deutschen Arbeitsrecht auf Ukrainisch und begannen eine regelrechte Aufklärungsoffensive vor Arbeitsämtern und in Geflüchtetenorganisationen. Zunehmend zeigen die Beratungsstellen auch Präsenz in den sozialen Medien und informieren und unterstützen dort ukrainische Geflüchtete. Mit Erfolg, wie die ständig wachsende Zahl von Arbeitskräften zeigt, die sich an die Beratungsstellen wenden, um mit deren Hilfe ihre Rechte durchzusetzen. Es besteht also durchaus die Hoffnung, dass es gelingt, der weiteren Prekarisierung ukrainischer Schutzsuchender etwas entgegenzusetzen.
Erschienen in analyse&kritik 689