Die ökonomischen Folgen der Pandemie werden auf die abhängig Beschäftigten abgewälzt
Die ökonomischen Folgen der Pandemie sollen auf die abhängig Beschäftigten abgewälzt werden. Das zeigen nicht nur die ersten Sondierungsgespräche zur Tarifrunde im öffentlichen Dienst.
Normalbetrieb – das verheißungsvolle Wort erklingt in jüngster Zeit häufig. Biergärten und Schwimmbäder haben rechtzeitig zum Sommerbeginn geöffnet. Sportvereine trainieren wieder. Selbst der Urlaub auf Mallorca ist in greifbare Nähe gerückt. Die Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote wurden in etlichen Bundesländern so stark gelockert, dass sie im Alltagsleben kaum noch eine Rolle spielen. Blendet man aus, dass sich die Zahl der Infektionen noch immer auf beunruhigend hohem Niveau bewegt, könnte man meinen, die Coronakrise sei überwunden.
Gerade für zahlreiche abhängig Beschäftigte gilt dies jedoch nicht. So wächst die Zahl der Beschäftigten in Kurzarbeit weiterhin rasant. Für die Unternehmen bietet die Kurzarbeit den großen Vorteil, dass sie ihre ausgebildeten Mitarbeiter weiterhin beschäftigen können und sich, wenn die Produktion wieder anläuft, nicht erst auf die Suche nach Fachkräften machen müssen. Während der Kurzarbeit erhalten die Beschäftigten, sofern keine tariflichen Vereinbarungen zur Aufstockung des Kurzarbeitergelds durch den Arbeitgeber greifen, zunächst nur 60 Prozent ihres Nettolohns für die jeweils ausfallende Arbeitszeit, Beschäftigte mit Kindern 67 Prozent. Erst ab dem vierten Bezugsmonat steigt die Höhe des Kurzarbeitergeld schrittweise. Bezahlt wird das Kurzarbeitergeld aus den Mitteln der Bundesagentur für Arbeit. Faktisch finanzieren die Lohnabhängigen die Weiterbeschäftigung selbst mit den vorher von ihnen einbezahlten Beiträgen in die Arbeitslosenversicherung.
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik befanden sich so viele Beschäftigte in Kurzarbeit wie zurzeit.
Die im Zuge der Pandemie von der Bundesregierung verabschiedeten Neuregelungen machen die Kurzarbeit noch attraktiver und zum massenhaft genutzten Instrument der Unternehmen in der Krise. Mussten in der Vergangenheit mindestens ein Drittel der Beschäftigten vom Arbeitsausfall betroffen sein, damit ein Betrieb Kurzarbeit anmelden konnte, wurde diese Schwelle zum 1. März auf zehn Prozent gesenkt. Zudem werden Unternehmen für die Zeit der Kurzarbeit sämtliche Sozialabgaben erstattet. Während die Arbeitgeber also vollständig von den Lohnkosten befreit werden, müssen Beschäftigte im schlimmsten Fall mit 40 Prozent weniger Lohn für ausgefallene Arbeitszeit auskommen. Das ist für viele nicht genug, um Miete und Lebensunterhalt zu bestreiten.
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik befanden sich so viele Beschäftigte in Kurzarbeit wie zurzeit. Der bisherige Rekord stammt aus dem Mai 2009, als im Zuge der Finanzkrise 1,44 Millionen Menschen in der Kurzarbeit gemeldet waren. Inzwischen liegen der Bundesagentur für Arbeit mehr als zehn Millionen Anmeldungen zur Kurzarbeit vor. Alleine im Mai beantragten Unternehmen für weitere 1,1 Millionen Beschäftigte Kurzarbeit. Noch lässt sich daraus nicht genau ableiten, wie viele Beschäftigte sich tatsächlich in Kurzarbeit befinden. Anhand vorläufiger Abrechnungsdaten geht die Bundesagentur für Arbeit für den April von sechs Millionen Menschen in Kurzarbeit aus. Die Zahl der Anzeigen zur Kurzarbeit wuchs so stark, dass etwa 8 500 Sachbearbeiterinnen und -bearbeiter die Antragsflut bewältigen müssen – 14mal mehr als im Normalfall.
Trotz der Maßnahmen zur Kurzarbeit steigt auch die Zahl der Arbeitslosen kontinuierlich. Inzwischen sind 2,813 Millionen Menschen arbeitssuchend gemeldet. Das sind 500 000 mehr als noch vor einem Jahr. Die Arbeitslosenquote stieg damit auf 6,1 Prozent. Zugleich wird es für Erwerbslose schwieriger, eine Stelle zu finden. Die Zahl der neu gemeldeten freien Stellen brach im April regelrecht ein und lag fast 60 Prozent unter der des Vorjahresmonats.
Während die Arbeitslosenzahl steigt und voraussichtlich noch in diesem Quartal drei Millionen betragen wird, ist die Zahl der Beschäftigten in Deutschland erstmals seit mehr als zehn Jahren gesunken. 44,8 Millionen Personen mit Wohnort in Deutschland sind derzeit erwerbstätig – das ist ein Rückgang um 210 000 Personen oder 0,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Wie das Statistische Bundesamt vergangene Woche meldete, sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Quartal um 2,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal, die Entwicklung setzt sich im zweiten Quartal fort. Derzeit geht die Bundesregierung davon aus, dass die Wirtschaftsleistung 2020 um 6,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr schrumpfen wird, was der größte Rückgang in der Geschichte der Bundesrepublik wäre. Auch der deutsche Export ist in Folge der Pandemie eingebrochen. Der Wert der Warenausfuhren sank im April gegenüber dem Vorjahresmonat um 31,1 Prozent. Das ist der größte Rückgang seit Beginn der Erhebungen für die Außenhandelsstatistik im Jahr 1950.
Mit Milliardenhilfen versucht die Bundesregierung, die ökonomischen Folgen der Krise abzufedern – zumindest für die Unternehmen. Dem Bundesfinanzministerium zufolge sollen die staatlichen Nothilfen allein im laufenden Jahr 450 Milliarden Euro betragen. Dazu kommen staatliche Kredite, Kreditgarantien und Steuererleichterungen. Insgesamt könnte der deutsche Staat Schätzungen der Deutschen Bank zufolge etwa 1,9 Billionen Euro an Wirtschaftshilfen aufbringen.
Bei den abhängig Beschäftigten dürfte davon kaum etwas ankommen. Nicht nur das: Während viele der im Eilverfahren getroffenen Maßnahmen zur Dämpfung des Infektionsverlaufs im Mai und Juni zurückgenommen wurden, blieben manche Arbeitnehmerrechte und Arbeitsschutzbestimmungen bis Ende des Monats außer Kraft gesetzt. Im April hatte der Bundestag den Landesregierungen ermöglicht, in sogenannten systemrelevanten Branchen und Berufen bis zum 30. Juni das Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit sowie zahlreiche Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes außer Kraft zu setzen. In vielen Bundesländern wurden daraufhin die gesetzlichen Pausen bei einer Arbeitszeit von sechs bis neun Stunden halbiert und bei einer Arbeitszeit von mehr als neun Stunden auf 30 Minuten reduziert. Zudem wurde die gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen um zwei Stunden verkürzt. Die Beschränkung der täglichen Höchstarbeitszeit auf grundsätzlich acht beziehungsweise in Ausnahmefällen maximal zehn Stunden wurde ebenfalls ausgesetzt. Als systemrelevant gelten gemäß den gängigen Allgemeinverfügungen inzwischen Millionen Beschäftigte – von der gesamten Lebensmittelproduktion über die Transport- und Logistikbranche bis hin zu weiten Bereichen des öffentlichen Dienstes.
Wer für systemrelevant erklärt und zur Mehrarbeit herangezogen wurde, erhielt in den vergangenen Monaten vielleicht gelegentlich Applaus. Die Gehälter fallen jedoch nicht höher aus. So wurden die ersten Sondierungsgespräche zur Tarifrunde im öffentlichen Dienst vergangene Woche ergebnislos abgebrochen. Verhandelt wird über die Bezahlung von etwa 2,4 Millionen Beschäftigten in Krankenhäusern, Kindertagesstätten, Bauhöfen und anderen »systemrelevanten« Bereichen. Die Gewerkschaften unter Führung von Verdi wollten angesichts der weiterhin angespannten Gesundheitssituation Streiks in der öffentlichen Daseinsvorsorge vermeiden und sich bereits vor den im Herbst stattfindenden Tarifverhandlungen auf eine Fortführung des Tarifvertrags und eine Einmalzahlung verständigen. Die kommunalen Arbeitgeber wiesen diese Forderung zurück. »Die finanzielle Situation der Kommunen ist wegen der Covid-19-Pandemie dramatisch«, sagte Niklas Benrath, der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), vergangene Woche der Süddeutschen Zeitung. Der Präsident der VKA, Ulrich Mädge, der als Verhandlungsführer der kommunalen Arbeitgeber antritt, forderte die Gewerkschaften auf, »fair zu agieren«.
»Die Arbeitgeber haben unsere ausgestreckte Hand ausgeschlagen«, sagte Frank Werneke, der Vorsitzende von Verdi, nach den ersten Sondierungsgesprächen. »Die kommunalen Arbeitgeber streben offensichtlich eine konfliktorientierte Tarifrunde im Herbst an.« Tatsächlich scheinen intensive Arbeitskämpfe nötig zu sein, um zu verhindern, dass die Krisenkosten immer weiter auf die Beschäftigten abgewälzt werden.
Erschienen in Jungle World 27/2020