Dem DGB fehlt die Einheit
Nachdem Streitigkeiten zwischen den Mitgliedsgewerkschaften den Deutschen Gewerkschaftsbund im vergangenen Jahr zu spalten drohten, sorgten kürzlich zwei Kooperationsvereinbarungen für vorläufigen Frieden. Die grundlegenden Konflikte bleiben jedoch bestehen.
Seit Jahrzehnten ist es die Organisationsgrundlage der deutschen Gewerkschaften: das Branchenprinzip. Es besagt, dass sich die zuständige Gewerkschaft für einen Betrieb anhand der Branche entscheidet, in der gearbeitet wird, und nicht nach der Tätigkeit der einzelnen Beschäftigten. Getreu dem Motto »Ein Betrieb – eine Gewerkschaft« soll so sichergestellt werden, dass die im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammengeschlossenen Gewerkschaften nicht in Konkurrenz zueinander treten und sich gegenseitig Mitglieder abwerben. Trotz vereinzelter Abgrenzungskonflikte in der Vergangenheit war dieses Modell lange Zeit der Garant für eine möglichst große Einigkeit innerhalb des Dachverbands.
Diese Einigkeit bröckelte jedoch in den vergangenen Jahren immer mehr – und mit ihr das Branchenprinzip. Einer der Gründe hierfür ist der Bedeutungs- und Mitgliederverlust der DGB-Gewerkschaften. In den vergangenen zehn Jahren verloren die acht Mitgliedsgewerkschaften des DGB zusammen fast 700 000 Mitglieder. Den beiden größten Gewerkschaften IG Metall und Verdi ist es zwar inzwischen gelungen, den Mitgliederverlust aufzuhalten, allerdings sinkt der Organisationsgrad der Beschäftigten kontinuierlich. Inzwischen sind nur noch 17,5 Prozent von ihnen gewerkschaftlich organisiert; in den neunziger Jahren waren es noch rund 30 Prozent.
Fatal sind die Rückgänge für die klassischen Industriegewerkschaften. So verlor die IG Bergbau-Chemie-Energie (BCE) in den vergangenen zehn Jahren fast 13 Prozent ihrer Mitglieder, die wesentlich kleinere IG Bau-Agrar-Umwelt (BAU) sogar fast 30 Prozent und auch der IG Metall gelang es bestenfalls, ihre Mitgliederzahl stabil zu halten. Die Gründe dafür sind größtenteils hausgemacht: Die Themen Leiharbeit und Werkverträge wurden lange stiefmütterlich behandelt und ein stetig wachsender Teil der Beschäftigten in den industriellen Kernbetrieben wurde daher nicht angesprochen. Zudem führte die zurückhaltende Tarifpolitik in vielen Bereichen zu einem jahrelangen Reallohnverlust – weder betrieblich noch gesellschaftlich gelang es den Gewerkschaften, der Agenda- und Sparpolitik der verschiedenen Regierungen etwas entgegenzusetzen. Erschwerend kamen strukturelle Veränderungen hinzu. So hat zum Beispiel die IG BCE mit kontinuierlich sinkenden Beschäftigungszahlen im Kohle- und Bergbau zu kämpfen.
Um den Rückgang der Mitglieder in ihren Kernbereichen etwas entgegenzusetzen, erklären sich die Industriegewerkschaften, insbesondere die IG Metall, zunehmend auch in anderen Branchen für zuständig und geraten dabei immer öfter mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi aneinander. So wirbt die IG Metall schon seit längerem aggressiv um neue Mitglieder in der boomenden Logistikbranche und versucht die eigentlich dort zuständige Verdi auszubooten. In immer mehr Betrieben gibt es Auseinandersetzungen um die Tarifhoheit. Die beiden Schwestergewerkschaften mobilisieren erhebliche Personal- und Finanzmittel, um sich gegenseitig auszustechen.
Die IG-Metall-Spitze stellt dabei auch das Branchenprinzip in Frage und plädiert stattdessen für eine einheitliche gewerkschaftliche Organisierung entlang der Wertschöpfungskette. In der Wirtschaft würden sich die Produktionsprozesse und die Organisation von Betrieben verändern; es sei daher mittlerweile wenig sinnvoll, »die Welt noch mittels Branchen zu erklären«, sagte der damalige IG-Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel im April 2015 bei einer Pressekonferenz. Aus dieser Logik heraus beansprucht die IG Metall auch die Tarifhoheit für Logistikdienstleister von Metallbetrieben für sich.
Im vergangenen Jahr eskalierte der Konflikt und wurde in die Öffentlichkeit getragen. IG Metall, IG BCE, IG BAU und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG stellten bei besagter Pressekonferenz eine Kooperationsvereinbarung vor. Die anderen vier DGB-Gewerkschaften – aus dem Dienstleistungssektor – wurden außen vor gelassen. Ebenso wie die IG Metall befinden sich auch die anderen drei beteiligten Gewerkschaften in Konflikten um Zuständigkeit mit Verdi. Die bisher von der IG BCE betreute ostdeutsche Wasserwirtschaft sollte einer Vereinbarung aus der Zeit des Vorsitzenden Hubertus Schmoldt zufolge künftig in die Tarifhoheit von Verdi fallen. Der derzeitige IG-BCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis versucht, dies zu verhindern – es geht immerhin um mehrere Tausend Beschäftigte. Die IG BAU konkurriert mit Verdi um die Reinigungskräfte in öffentlichen Betrieben, vor allem in Krankenhäusern, und die EVG um die Zuständigkeit im Personennahverkehr. Daher richtete sich der Zusammenschluss der Industriegewerkschaften vor allem gegen Verdi und verfolgte das Ziel, eine Neuorganisation des DGB anzustoßen – abseits des Branchenprinzips.
Der DGB, ein Dachverband, der gegenüber seinen Mitgliedsgewerkschaften ohnehin nur wenig Autorität genießt, wurde durch die jüngsten Querelen weiter geschwächt. Lange Zeit gelang es weder dem DGB-Vorsitzendem Reiner Hoffmann noch seinem Vorgänger Michael Sommer, die Konflikte beizulegen. Selbst die Entscheidungen von DGB-Schiedsgerichten, die dann angerufen werden, wenn sämtliche Versuche einer Einigung bei Abgrenzungskonflikten gescheitert sind, und deren Sprüche für die Mitgliedsgewerkschaften eigentlich bindend sind, wurden ignoriert. Möglichkeiten, solche Entscheidungen gegenüber den Mitgliedsgewerkschaften durchzusetzen, besitzt der DGB im Gegensatz zu den Gewerkschaftsdachverbänden anderer Länder nicht. Im Gegenteil, da der DGB sich rein über die Abgaben seiner Mitgliedsgewerkschaften finanziert und deren Höhe von einzelnen Mitgliedsgewerkschaften immer gerne dann in Frage gestellt wird, wenn der Dachverband nicht in ihrem Sinne handelt, ist er von deren Wohlwollen abhängig. Den Angriffen auf das Branchenprinzip und der daraus resultierenden Konkurrenz unter den DGB-Gewerkschaften steht er daher machtlos gegenüber.
In zwei der erbitterten Abgrenzungsstreitigkeiten konnten die »Schwesterorganisationen« sich kürzlich jedoch einigen. So verständigte sich Verdi mit der IG BCE über die Zuständigkeit in der Wasserwirtschaft. Die Dienstleistungsgewerkschaft bleibt zwar weiterhin grundsätzlich die Interessenvertretung für die Beschäftigten in diesem Bereich, doch die Ausnahmen für weite Teile Ostdeutschlands bleiben erhalten. Dem IG-BCE-Vorsitzenden Vassiliadis gelang es also, die Vereinbarung seines Vorgängers zu revidieren.
Auch bei ihrer Übereinkunft mit der IG Metall musste Verdi zurückstecken. Die Vereinbarung im Logistikbereich sieht vor, dass Speditionen künftig in den Zuständigkeitsbereich der IG Metall fallen, wenn sie für nur einen Metallbetrieb arbeiten, auf dem Werksgelände eines Betriebes, der in den Organisationsbereich der IG Metall fällt, angesiedelt sind oder für ein Metallunternehmen Teile der Produktion oder Fertigung übernehmen. Die IG Metall hat mit dieser Kooperationsvereinbarung auch einen ersten Schritt zur von ihr gewünschten Abkehr vom Branchenprinzip und hin zur Organisation entlang der Wertschöpfungskette gemacht. Offen bleibt, wie lange der vorläufige Friede im DGB anhält und ob das Branchenprinzip noch eine Zukunft hat.
Erschienen in: Jungle World 12/2016, vom 24.03.2016