Keine Flucht aus der Maloche

Politiker und Arbeitgeber überbieten sich mit Forderungen zur Lebensarbeitszeit

Kapitalverbände, Medien und Politik stellen die Rente mit 63 in Frage.

Die »Rentendebatte« sei zurück, heißt es seit einiger Zeit in zahlreichen Medien. Das bedeutet: Politiker:innen, Leitartikelschreiber:in­nen und selbsternannte Arbeitsmarkt-, Renten- und Wirt­schafts­expert:innen streiten mal wieder darüber, wie lange Menschen gezwungen sein sollen, zu arbeiten. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) teilte mit, gegen Frühverrentung vorgehen zu wollen, die Unionsparteien kritisieren die Möglichkeit des abschlagsfreien Renteneintritts mit 63 und wollen »freiwilliges« Arbeiten über das Alter von 67 Jahren ermöglichen, und die FDP fordert eine noch weitergehende Flexibilisierung.

So richtig weg war die »Rentendebatte« freilich nie. Im Sommer tobte zuletzt ein erbitterter Wettkampf in den deutschen Medien darum, wer das höchste Renteneintrittsalter in der öffentlichen Debatte platzieren kann. »Die Rente mit 70 ist ein Muss«, verkündete beispielsweise Rainer Reitzler, der Vorstandsvorsitzende der Versicherungsgruppe Münchener Verein, in einem Gastbeitrag für den Versicherungsboten. Seine Argumente waren nicht neu: Aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung kämen zu wenige Beitragszahler auf immer mehr Leistungsbezieher, was die gesetzliche Rentenversicherung in eine Schieflage bringe. »Ohne ein höheres Renteneintrittsalter werden wir unseren Wohlstand und das Rentenniveau nicht halten können.«

Für eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre plädierte auch der Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Stefan Wolf. »Wir werden länger und mehr arbeiten müssen«, ließ er wissen und meinte mit »wir« natürlich nicht sich, sondern die Lohnabhängigen. Wie auch Reitzler behauptete Wolf, aufgrund des Anstiegs des Lebensalters werde »das System mittelfristig nicht mehr finanzierbar sein«. Unterstützung erhielt die Rente ab 70 mit derselben Begründung auch von Ökonom:innen wie der »Wirtschaftsweisen« Monika Schnitzer und dem Wirtschaftswissenschaftler und Lobbyisten Bernd Raffelhüschen.

Der Wirtschaftswoche sind diese Vorschläge zu bescheiden. Sie plädiert stattdessen für ein Renteneintrittsalter von 75 Jahren. Die FAZ erhöht und bringt die Rente mit 80 Jahren ins Spiel. Dabei ­beruft sich das Blatt auf den Altersforscher Nir Barzilai. Dieser geht davon aus, dass Menschen, die heute auf die Welt kommen, bis zu 150 Jahre alt werden könnten. Entsprechend müssten schon jetzt die Sozialversicherungssysteme daran angepasst werden. Ein Problem sieht Barzilai darin nicht. Im Interview mit der FAZ bezieht sich der Forscher ausgerechnet auf einen Hedgefonds-Manager, den er für seiner Studie befragt hat und der auch mit 107 Jahren nicht ans Aufhören denkt.

In der seit Jahren andauernden Diskussion über die vermeintliche Unterfinanzierung der gesetzlichen Rente wird weitgehend ignoriert, dass es für deren Stabilität nicht auf die Zahl der Versicherten ankommt, sondern vielmehr auf die Höhe der Beiträge, die in das System fließen. Es sind die erhebliche Ausweitung des Niedriglohnsektors und prekärer Beschäftigungsverhältnisse wie Leiharbeit, Werkverträge und Minijobs, die dem gesetzlichen Rentenversicherungssystem zusetzen. Somit ist es kein unumgängliches Natur­gesetz, dass das Renteneintrittsalter trotz stetig wachsender Produktivität angehoben werden muss, sondern eine bewusste politische Entscheidung.

In den vergangenen Wochen wurde jedoch immer öfter ein neues Argument für eine Erhöhung des Renteneintrittsalter ins Feld geführt: der vielbeschworene Fachkräftemangel. Dabei wird besonders auf die Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren abgezielt. Den Auftakt zur Debatte machte Bundeskanzler Olaf Scholz. Um die Lücken am Arbeitsmarkt zu schließen, sollen seiner Meinung nach mehr Menschen als bisher bis zum regulären Renteneintrittsalter von 67 arbeiten. Die Zahl der Frührentner:innen soll sinken.

Die Vorlage griff der Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger gerne auf. Es dürfe keinen »Trend zur Frühverrentung« geben, die Bundesregierung müsse deshalb »schnellstmöglich die milliardenschwere Subventionierung der Frühverrentung« beenden. Zustimmung kommt vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, der ebenfalls den Fachkräftemangel ins Feld führt und die Bundesregierung zum Handeln auffordert. Auch medial wird der frühere Renteneintritt kritisiert. Während Die Zeit feststellt: »Es hilft nichts – die Boomer müssen länger arbeiten«, beklagt der Deutschlandfunk, es herrsche »eine Kultur des Frühausstiegs«.

Tatsächlich kehrt, wie die Zahlen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zeigen, wer irgendwie kann, der Maloche so früh wie möglich den Rücken und versucht, der Knochenmühle der Lohnarbeit zu entfliehen. Dafür nehmen viele sogar eine deutlich niedrigere Rente in Kauf. Dem Ziel, diesen Fluchtweg möglichst zu versperren, scheinen sich Opposition und Regierung gleichermaßen verschrieben zu haben.

Erschienen in Jungle World 51/2022