Parallel zu den Studierenden brachten 1968 auch Azubis frischen Wind in die Politik – und in die Gewerkschaften
Mehr als eine halbe Million Lehrlinge starten am 1. September ins Berufsleben. Auch in diesem Jahr ist der Ausbildungsbeginn begleitet vom Lamento der Arbeitgeberverbände, es gebe zu wenige Azubis. Tatsächlich blieben im Ausbildungsjahr 2016 43 000 Ausbildungsplätze unbesetzt, ihnen standen jedoch zugleich 280 000 junge Menschen gegenüber, die keine Stelle fanden. Der vielfach beklagte Fachkräftemangel ist also durchaus hausgemacht.
In einigen Branchen herrscht allerdings wirklich ein Mangel an Auszubildenden. Insbesondere der Hotel- und Gaststättensektor und einige Branchen des Handwerks tun sich schwer bei der Suche nach Nachwuchskräften. Einen Hinweis auf die Gründe dafür liefert der jährliche Ausbildungsreport der DGB-Jugend zur Ausbildungsqualität (siehe Infokasten).
Besonders schlecht schneiden dabei die Branchen ab, die sich über fehlenden Nachwuchs beklagen. Vor allem Azubis im Hotel- und Gaststättenbereich, im Friseurhandwerk und in der Lebensmittelbranche sind unzufrieden und bewerten ihre Betriebe als mangelhaft. Hier sind auch die Abbruchquoten während der Ausbildung am höchsten.
Weitere große Probleme im Bereich der dualen Ausbildung stellen laut der Gewerkschaftsjugend die schlechte finanzielle Ausstattung der Berufsschulen und die mangelnde Abstimmung zwischen Berufsschulen und Betrieben dar. Sie fordern deshalb einheitliche Qualitätsstandards in der Ausbildung und ein Investitionsprogramm für die Berufsschulen.
Vor allem aber setzen die jungen Gewerkschafter auf eine Reform des veralteten Berufsbildungsgesetzes (BBiG). Dieses wurde 1969 verabschiedet und ist seither nur wenig verändert worden. Auf eine solche Reform hatten sich eigentlich auch Union und SPD bereits im Koalitionsvertrag von 2013 geeinigt – jedoch ohne Resultat. Nun setzt die Gewerkschaftsjugend ihre Hoffnungen in die erneute Große Koalition, denn auch im aktuellen Koalitionsvertrag wurde eine Novellierung des Gesetzes vereinbart. Geschehen ist seitdem jedoch wenig. Entstanden ist das BBiG 1969 allerdings ebenfalls nicht aus der Einsicht der damals Regierenden in die Notwendigkeit gesetzlicher Ausbildungsstandards. Es ist vielmehr ein Resultat des Kampfes der Lehrlingsbewegung, der vor 50 Jahren begann.
Als es Flugblätter regnete
Auch wenn das Jahr 1968 vor allem als das Jahr der Studentenbewegung in die Geschichte einging, war es auch das Jahr, in dem sich Lehrlinge verstärkt organisierten und der Aufschwung der Gewerkschaftsjugend begann.
Will man den Beginn der Lehrlingsbewegung bestimmen, stößt man unweigerlich auf den 25. September 1968. Zwar rumorte es schon zuvor unter den jungen Beschäftigten, doch an diesem Tag traten sie erstmals auf spektakuläre Weise an die Öffentlichkeit. Während der traditionellen Freisprechungsfeier der Handelskammer in der Hamburger Börse regnete es plötzlich Flugblätter auf Teilnehmer und Gäste, in denen die Ausbildungsbedingungen junger Arbeiter angeprangert wurden. Kurze Zeit später gründeten gewerkschaftlich orientierte Jugendliche in Hamburg die »Arbeitsgemeinschaft der Lehrlinge für eine bessere Berufsausbildung«, die bald darauf die erste selbstständige Lehrlingsdemonstration organisierte. Mehr als 1000 Teilnehmer zogen mit Parolen wie »Brauchst du einen billigen Arbeitsmann, schaff dir einen Lehrling an« durch Hamburg. Es war der Auftakt für Demonstrationen und Proteste in allen größeren Städten der damaligen Bundesrepublik.
Trotz der einsetzenden Wirtschaftskrise herrschte Ende der 1960er Jahre Vollbeschäftigung, und auch an Ausbildungsplätzen bestand kein Mangel. Wegen des Fehlens einheitlicher Standards war die Qualität der Ausbildung jedoch sehr unterschiedlich. Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen mit wenigen Beschäftigten waren Auszubildende weitgehend entrechtet. Die Proteste richteten sich daher vor allem gegen die altertümlichen Ausbildungsbedingungen.
Im Zeitalter der Raumfahrt wurden die gewerblichen Lehrlinge immer noch nach der Gewerbeordnung des 19. Jahrhunderts ausgebildet, für kaufmännische Auszubildende galt das Handelsgesetzbuch, das ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammte. Die protestierenden Auszubildenden forderten unter anderem das Ende körperlicher Züchtigungen, ein Verbot ausbildungsfremder Tätigkeiten, ein Streikrecht für Lehrlinge, die Überführung der Ausbildung in staatliche Einrichtungen und Schulen und insbesondere neue gesetzliche und vertragliche Grundlagen der Ausbildung. Vielerorts gingen Lehrlinge auch für ein garantiertes Mindesteinkommen oder die Herabsetzung der Höchstarbeitszeit auf sechs Stunden auf die Straße. Im ganzen Land entstanden Lehrlingszentren, in denen sich junge Beschäftigte selbstständig organisierten, sich weiterbildeten und Proteste planten. Auf dem Höhepunkt der Bewegung existierten etwa 150 solcher Lehrlingszentren in der ganzen Bundesrepublik. Einige von ihnen wurden später zur Keimzelle der Jugendzen-trumsbewegung.
Ein Grund für diesen hohen Grad an Selbstorganisation war, dass die Gewerkschaften lange untätig geblieben waren und die Vertretung von Lehrlingsinteressen nicht als ihre Aufgabe sahen. Gewerkschaftliche Jugendarbeit existierte damals faktisch nicht. Dies änderte sich erst mit der Lehrlingsbewegung, die den Druck auf den DGB erhöhte, sich auch für junge Beschäftigte einzusetzen. So geriet der 1. Mai 1969 für die Gewerkschaftsführung zum Desaster, nachdem sich in vielen Städten unter dem Motto »Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft« eigene Lehrlingsblöcke auf den DGB-Demonstrationen gebildet hatten, die sich lautstark Gehör verschafften. Auf der zentralen Mai-Kundgebung des DGB in Hamburg musste Bundeskanzler Willy Brandt seine Rede begleitet von den Sprechchören von 3000 Lehrlingen vortragen.
Infolge dieses für den Gewerkschaftsvorstand völlig unerwarteten Protests gegen die Gewerkschaftsbürokratie traten schon am 6. Mai Betriebsräte und Vertrauensleute auf einer Konferenz zusammen, um die Jugendarbeit des DGB neu auszurichten. Kurz darauf entwarfen die Gewerkschaften ein Sofortprogramm, bei dessen Ausarbeitung auch gewerkschaftlich organisierte Lehrlinge und Studenten eingebunden wurden. Davon ermutigt, riefen verschiedene Lehrlingszentren und neu gegründete gewerkschaftliche Jugendgruppen zu einer Demonstration in Köln auf, an der sich 10 000 Lehrlinge beteiligten.
Verjüngung der Gewerkschaften
Die Lehrlingsbewegung forcierte sowohl eine Neuausrichtung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik als auch die Reform der beruflichen Ausbildung. Die SPD/FDP-Regierung verabschiedete auf Druck der Gewerkschaften noch 1969 das BBiG, das erstmals einheitliche Regelungen und Standards für die Ausbildung festschrieb. Dazu kam eine umfassende Reform des Jugendarbeitsschutzgesetzes und des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG). In der ersten Fassung des BetrVG von 1952 hatten sich nur einige verstreute Vorschriften über die besondere Vertretung Jugendlicher gefunden. Erst die Forderung der Auszubildenden nach mehr Mitbestimmung erzwang 1972 die Zusammenfassung der Vorschriften in einem eigenen Abschnitt und die Ausweitung der Befugnisse. Insbesondere gelang es, den Kündigungsschutz auch auf Jugend- und Auszubildendenvertreter auszuweiten. Hinzu kamen weitere gesellschaftliche Reformen wie die Volljährigkeit – und damit das Wahlrecht – ab 18 Jahren.
Der Bundesregierung gelang es so größtenteils, den Protest einzuhegen. Jedoch nicht immer. In der ersten Hälfte der 70er Jahre kam es immer wieder zu Protesten junger Arbeitnehmer, darunter auch zu wilden Streiks.
Einen Beitrag zur Kanalisierung des Protests leisteten auch die Gewerkschaften. In immer mehr Orten wurden gewerkschaftliche Jugendausschüsse gegründet. Viele Betriebsräte kümmerten sich nun auch um die Belange der Nachwuchskräfte und die Gewerkschaften verstärkten ihre Jugendarbeit. Allmählich übernahm der DGB auch die Forderung nach eigenständigen Ausbildungstarifverträgen und band die Jugendlichen aus den Lehrlingszentren in die inhaltlichen Debatten und Verhandlungen ein. Den Gewerkschaften tat der frische Wind gut. Nicht nur stiegen ihre Mitgliederzahlen unter jungen Beschäftigten rasant an; vielerorts waren es vor allem die gewerkschaftlichen Jugendausschüsse, die nach Jahren der Saalveranstaltungen die Gewerkschaften am 1. Mai wieder auf die Straße brachten.
Mitte der 70er Jahre ebbte die Lehrlingsbewegung ab. Diejenigen, die nicht in die Gewerkschaften integriert wurden, wandten sich immer stärker der Jugendzentrumsbewegung zu. Zugleich machte sich die Krise der Weltwirtschaft auch auf dem deutschen Ausbildungsmarkt bemerkbar. An die Stelle des einstigen Überschusses an Ausbildungsplätzen trat ein Mangel, und die Jugendarbeitslosigkeit stieg.
Wie der jährliche Bericht der DGB-Jugend zeigt, liegt in der dualen Ausbildung auch heute einiges im Argen. Während die Jugendarbeitslosigkeit ein Rekordtief erreicht hat und Nachwuchskräfte teils dringend gesucht werden, gelang es in den vergangenen Jahren nicht, auf dem parlamentarischen Weg eine tatsächliche Verbesserung von Ausbildungsqualität und -bedingungen durchzusetzen. Die Zeit scheint reif für eine neue Lehrlingsbewegung.
Erschienen in Neues Deutschland am 02.08.2018