Gehorchen statt streiken

Das Bundesverfassungsgericht hat das Streikverbot für Beamte bestätigt

Mit seinem Urteil zum Streikverbot für Beamte hält das Bundes­verfassungsgericht am anachronistischen Beamtenrecht fest, das zum Teil noch aus dem Preußen des 18. Jahrhunderts stammt.

Die Stadt steht still. Busse und Bahnen haben ihren Betrieb eingestellt, Kindergärten und Arbeitsagenturen bleiben geschlossen und die Kranken­häuser laufen nur im Notbetrieb. Statt des Berufsverkehrs bewegt sich ein ­Demonstrationszug durch die Straßen von Paris. Einmal mehr haben die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst in Frankreich zu Streiks und Protesten gegen die Sparpläne der Regierung Macron aufgerufen. Wirkung entfaltet der Streik vor allem, weil sich alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes an den Arbeitsniederlegungen beteiligen können – auch die mehr als fünf Millionen Beamten Frankreichs.

Anders ist es in Deutschland. Hier gilt weiterhin ein obrigkeitsstaatliches Beamtenrecht, das auf Grundsätzen aus der Feudalzeit beruht. Im Gegensatz zu anderen Beschäftigungsverhältnissen tritt hier nicht ein freier Lohnarbeiter seinem Arbeitgeber gegenüber, sondern ein zu »Treue« und »Gehorsam« verpflichteter Untergebener seinem »Dienstherrn«. So besitzen deutsche Beamte keinen Arbeitsvertrag, sondern werden ernannt, und ihr Gehalt wird nicht von ihnen verhandelt, sondern durch Besoldungsgesetze festgelegt. Statt auf Arbeitnehmerschutzrechte sind sie auf die »besondere Fürsorgepflicht« ihres Dienstherren angewiesen. Wie so vieles hierzulande sind auch die Grenzen dieser Fürsorgepflicht höchstrichterlich definiert. So ist gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sogar eine Bezahlung, die lediglich 15 Prozent über den Leistungen für Sozialhilfeempfänger liegt, noch als amtsan­gemessen zu beurteilen.

Aus diesem rechtlichen Status, der eher dem von Leibeigenen ähnelt, ­leitet sich auch die Möglichkeit ab, demokratische Grundrechte von Beamten einzuschränken – zum Beispiel mit dem Streikverbot. Dabei soll es auch bleiben, wie das BVerfG in der vergangenen Woche im Fall dreier verbeamteter Lehrerinnen und eines Lehrers festgestellt hat. Sie waren einem Streik­aufruf der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gefolgt. Die Schulbehörde hatte daraufhin Diszi­plinarmaßnahmen verhängt, wogegen die Betroffenen mit Unterstützung der GEW in Karlsruhe geklagt hatten. Nach Meinung der Gewerkschaft wie auch der Beschwerdeführer ist das Streikrecht ein Menschenrecht; dieses Beamten generell vorzuenthalten, sei ein unzulässiger Eingriff in die demokratischen Grundrechte.

Der GEW ging es dabei nicht um eine allgemeine Abschaffung des Streikverbots, sondern um eine Differenzierung zwischen Beamten, die originär hoheitlich tätig sind, wie beispielsweise bei Justiz oder Polizei, und weniger heiklen Bereichen. Grundlage für ihre Argumentation ist unter anderem eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus dem Jahr 2009, die auch Beschäftigten im Beamtenstatus das Recht auf Kollektivhandlungen und Streik zu­gesteht. Dem EGMR-Entscheid zufolge darf ein Streikverbot zwar mit der Funktion, nicht aber mit dem Status eines Beschäftigten begründet werden. Mit ihrer Einschätzung steht die GEW nicht alleine. So rügte auch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) die Bundesrepublik bereits mehrmals ­wegen des Beamtenstreikverbots.

Angesichts dieser Ausgangslage hatten sich die Betroffenen Hoffnungen gemacht, dass die deutschen Verfassungsrichter ihren Straßburger Kollegen folgen und das Streikverbot auf­heben würden. Diese Hoffnung wurde enttäuscht. Das BVerfG urteilte stattdessen ganz im Sinne des Erfinders des deutschen Berufsbeamtentums, des preußischen »Soldatenkönigs« Friedrich Wilhelm I. Die von ihm erarbeiteten Grundlagen des heutigen Beamtenrechts wurden von seinem Nachnachfolger Friedrich Wilhelm II. 1794 mit dem »Landrecht für die preußischen Staaten« erstmals in einem Gesetz zusammengefasst. Ein Blick ins Grundgesetz zeigt, dass dort nirgendwo von einem Streikverbot für Beamte die Rede ist. Stattdessen wird darin seit 1950 auf die »hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums« verwiesen, mit denen die preußischen Regelungen aus dem 18. Jahrhundert ­gemeint sind. In seiner Entscheidung stellte das BVerfG in der vergangenen Woche fest, dass zu diesen »hergebrachten Grundsätzen« auch das Streik­verbot gehört.

Der anachronistische Urteilsspruch auf Basis »hergebrachter Grundsätze« stieß bei Gewerkschaftsfunktionären auf Unverständnis. »Hundert Jahre nach dem Ende der Monarchie, der Gründung des Freistaats und der Begründung des modernen deutschen Arbeitsrechts wäre es endlich an der Zeit gewesen für ein Ende des Streikverbots für Beamtinnen und Beamte«, sagte beispielsweise der bayerische GEW-Vorsitzende Anton Salzbrunn. Auch die GEW-Bundesvorsitzende Marlis Tepe zeigte sich enttäuscht. »Das ist ein schwarzer Tag für Demokratie und Menschenrechte«, so Tepe am Dienstag vergangener Woche. Das Gericht schreibe damit die bisherige Rechtsprechung fest und vollziehe einen Rückschritt ins vergangene Jahrhundert, kritisierte sie. Die GEW-Vorsitzende kündigte an, dass ihre Gewerkschaft das Urteil eingehend prüfen und dann über weitere Schritte entscheiden werde. Beobachter halten einen Gang vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof für wahrscheinlich.

Für Unmut sorgte nicht zuletzt die Begründung des BVerfG, in der die Richter die Argumentation des beklagten Dienstherrn beinahe vollständig übernahmen. So warf der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) den Befürwortern eines Streikrechts für Beamte im Rahmen der Verhandlung »Rosinenpickerei« vor. Auf dieselbe Wortwahl griffen auch die Verfassungsrichter zurück. Des Weiteren befürchtet das BVerfG wie de Maizière, dass ein Streikrecht für bestimmte Beamte eine Kettenreaktion zur Folge hätte, die das gesamte System des Berufsbeamtentums in Mitleidenschaft ziehen würde. Eine Spaltung in Beamte mit Streikreicht und solche ohne sei unbedingt zu verhindern.

Angesichts der Spaltung der Belegschaften durch die Politik der Bundesregierungen der vergangenen Jahrzehnte erscheint diese Argumentation mehr als fragwürdig. So sind nur noch drei Viertel der Lehrkräfte verbeamtet. Während die etwa 200 000 angestellten Lehrerinnen und Lehrer für ihre Arbeits- und Lohnbedingungen streiken dürfen, wird dieses Recht ihren verbeamteten Kollegen verweigert. Noch deutlicher zeigt sich die Diskrepanz in den privatisierten Nachfolgeunternehmen der Post. Noch etwa jeweils 40 000 Beamte arbeiten bei Post und Telekom. Ihnen wird nicht nur das Streikrecht verweigert, sie werden gelegentlich auch als Streikbrecher eingesetzt. Das Bundesverfassungsgericht hatte 1993 in einer Präzedenzentscheidung lediglich zur Voraussetzung gemacht, dass der Einsatz freiwillig geschehe.

Bei Anhängern des Obrigkeitsstaats stößt das BVerfG-Urteil freilich auf Begeisterung. Dazu gehört nicht nur die Bundesregierung, sondern auch Standesorganisationen wie der Deutsche Beamtenbund (DBB) und dessen Lehrerverbände. »Mit seiner Entscheidung hat das oberste deutsche Gericht unsere Rechtsauffassung zum Beamtenstatus einhundertprozentig bestätigt«, sagte der DBB-Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach. »Die Verfassung ­garantiert mit dem Berufsbeamtentum und seinen Grundsätzen in einem ausbalancierten Verhältnis von Rechten und Pflichten ganz bewusst einen streikfreien Raum, in dem eine ständige staatliche Aufgabenerledigung sichergestellt wird«, so Silberbach. In einer Stellungnahme gibt der DBB zudem einen tiefen Einblick in sein obrigkeitsstaatliches Denken: »Es ist tief im Berufsethos der Beamten verwurzelt, das besondere Dienst- und Treuverhältnis auch zu leben. Und das bedeutet, den Staat am Laufen zu halten, immer und unter allen Umständen«, heißt es dort.

Fernab von allem Pathos der Staatstreue verweist der dem DBB angeschlossene Deutsche Lehrerverband (DLV) auf den Grund, warum sowohl Standesorganisationen als auch Bundesregierung dem Berufsbeamtentum und dem damit verbundenen Streikverbot eine solch hohe Bedeutung beimessen. Ein öffentlicher Dienst, gespalten in Angestellte und Beamte, in dem letztere auf die Für­sorgepflicht ihres Dienstherren angewiesen sind und es ihnen untersagt ist, für die Verbesserung ihrer Arbeits- und Lohnbedingungen zu streiken, gilt als Vorteil in der Staatenkonkurrenz. »Der Beamtenstatus für Lehrkräfte ist nicht überholt, sondern ein wesent­licher Standortvorteil eines modernen, bürgerfreundlichen funktionierenden Staatswesens«, heißt es daher in der Stellungnahme des DLV zum Urteil des BVerfG.

Erschienen in Jungle World 25/2018 vom 21.06.2018