1968 war auch das Jahr der Lehrlingsbewegung
1968 gilt vor allem als das Jahr der Studentenbewegung. Doch damals organisierten sich auch Lehrlinge und der Aufschwung der Gewerkschaftsjugend begann.
Geht es darum, den Beginn der Lehrlingsbewegung zu bestimmen, stößt man unweigerlich auf den 25. September 1968. Zwar hatte es schon zuvor unter den jungen Beschäftigten rumort, doch im Herbst des Protestjahrs trat die Lehrlingsbewegung erstmals auf spektakuläre Weise an die Öffentlichkeit. Auf der traditionellen Freisprechungsfeier der Handelskammer für 3 000 Lehrlinge in der Hamburger Börse regnete es plötzlich Flugblätter auf Teilnehmer und Gäste, in denen die Ausbildungsbedingungen junger Arbeiter angeprangert wurden. Kurze Zeit später gründeten gewerkschaftlich orientierte Jugendliche in Hamburg die »Arbeitsgemeinschaft der Lehrlinge für eine bessere Berufsausbildung«, die am 6. November die erste selbständige Lehrlingsdemonstration organisierte. Mehr als 1 000 Teilnehmer zogen mit Parolen wie »Brauchst du einen billigen Arbeitsmann, schaff dir einen Lehrling an« durch die Hamburger Innenstadt. Es war der Auftakt für Demonstrationen und Proteste in allen größeren Städten der damaligen Bundesrepublik.
Trotz der einsetzenden Wirtschaftskrise herrschte Ende der sechziger Jahre Vollbeschäftigung und auch an Ausbildungsplätzen bestand kein Mangel. Wegen des Fehlens einheitlicher Standards war die Qualität der Ausbildung jedoch von Betrieb zu Betrieb sehr unterschiedlich. Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen mit wenigen Beschäftigten, wo es schwieriger war, für bessere Arbeitsbedingungen zu streiten, waren Auszubildende weitgehend entrechtet. Die Proteste richteten sich daher vor allem gegen die altertümlichen Ausbildungsbedingungen, die im Deutschland der sechziger Jahre vorherrschten.
Im Zeitalter der Raumfahrt wurden in Westdeutschland gewerbliche Lehrlinge immer noch nach der Gewerbeordnung des 19. Jahrhunderts ausgebildet, für kaufmännische Lehrlinge galt vorwiegend das Handelsgesetzbuch, das ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammte. Die protestierenden Auszubildenden forderten unter anderem das Ende körperlicher Züchtigungen durch Vorgesetzte, ein Verbot ausbildungsfremder Tätigkeiten, ein Streikrecht für Lehrlinge, die Überführung der Ausbildung aus den Betrieben in staatliche Einrichtungen und Schulen und insbesondere neue gesetzliche und vertragliche Grundlagen der Ausbildung. Vielerorts gingen Lehrlinge auch für ein garantiertes Mindesteinkommen oder die Herabsetzung der Höchstarbeitszeit auf sechs Stunden auf die Straße. Im ganzen Land entstanden Lehrlingszentren, in denen sich junge Beschäftigte selbständig organisierten, sich weiterbildeten und Proteste planten. Auf dem Höhepunkt der Lehrlingsbewegung 1971/72 existierten etwa 150 solcher Lehrlingszentren in der ganzen Bundesrepublik. Einige von ihnen wurden zur Keimzelle der späteren Jugendzentrumsbewegung.
Selbstorganisation gegen die Untätigkeit der Gewerkschaften
Einer der Gründe für diesen hohen Grad an Selbstorganisation war, dass die Gewerkschaften lange untätig geblieben waren und die Vertretung der Lehrlingsinteressen nicht als ihre Aufgabe gesehen hatten. Auch gewerkschaftliche Jugendarbeit existierte damals faktisch nicht. Dies änderte sich mit der Lehrlingsbewegung, die den Druck auf den DGB erhöhte, sich auch für junge Beschäftigte einzusetzen. So geriet der 1. Mai 1969 für die Gewerkschaftsführung zum Desaster, nachdem sich in vielen Städten unter dem Motto »Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft« eigene Lehrlingsblöcke auf den DGB-Demonstrationen gebildet hatten, die sich lautstark Gehör verschafften. Auf der zentralen Mai-Kundgebung des DGB in Hamburg mussten Bundeskanzler Willy Brandt und der IG-Metall-Vorsitzende Otto Brenner ihre Reden gegen die Sprechchöre von 3 000 Lehrlingen vortragen.
Im ganzen Land entstanden Lehrlingszentren, in denen sich junge Beschäftigte selbständig organisierten, sich weiterbildeten und neue Proteste planten.
Infolge dieses für den Gewerkschaftsvorstand völlig unerwarteten Protests gegen die Gewerkschaftsbürokratie traten schon am 6. Mai Betriebsräte und Vertrauensleute auf einer zentralen Konferenz zusammen, um die Jugendarbeit des DGB neu auszurichten. Kurz darauf entwarfen die Gewerkschaften ein »jugendpolitisches Sofortprogramm«, bei dessen Ausarbeitung auch gewerkschaftlich organisierte Lehrlinge und Studenten eingebunden wurden. Davon ermutigt, riefen verschiedene Lehrlingszentren und neu gegründete gewerkschaftliche Jugendgruppen zu einer Demonstration in Köln auf, an der sich am 7. Juni 10 000 Lehrlinge beteiligten. Auch bei den Septemberstreiks spielten die jungen Auszubildenden eine wichtige Rolle, so beim Arbeitskampf im Hoesch-Hüttenwerk in Dortmund und den sich von dort ausbreitenden »wilden«, also nicht von der Gewerkschaftsbürokratie genehmigten Streiks, an denen sich bald 140 000 Beschäftigte aus 69 Betrieben beteiligten.
Die Lehrlingsbewegung forcierte nicht nur die Neuausrichtung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik, sondern auch die Reform der beruflichen Ausbildung. Die SPD/FDP-Regierung verabschiedete auf Druck der Gewerkschaften noch 1969 das Berufsbildungsgesetz, das erstmals einheitliche Regelungen und Standards für die Ausbildung festschrieb. Dazu kam eine umfassende Reform des Jugendarbeitsschutzgesetzes und des Betriebsverfassungsgesetzes. In der ersten Fassung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952 hatten sich nur einige verstreute Vorschriften über die besondere Vertretung Jugendlicher gefunden. Erst die Forderung der Auszubildenden nach mehr Mitbestimmung erzwang 1972 die Zusammenfassung der Vorschriften in einem eigenen Abschnitt und die Ausweitung der Befugnisse. Insbesondere gelang es, den Kündigungsschutz auch auf Jugend- und Auszubildendenvertreter auszuweiten. Hinzu kamen weitere gesellschaftliche Reformen wie die Volljährigkeit – und damit das Wahlrecht – ab 18 Jahren.
Der Bundesregierung gelang es so, den Protest einzuhegen – jedoch nicht immer. In der ersten Hälfte der siebziger Jahre kam es immer wieder zu Protesten junger Arbeitnehmer, darunter auch zu wilden Streiks, so zum Beispiel in der zentralen Ausbildungswerkstatt der Stadt Frankfurt am Main. Nachdem es dort bereits im Mai 1970 zu ersten Auseinandersetzungen um die Ausbildungsbedingungen und im Zuge dessen zu einer kurzen Arbeitsniederlegung gekommen war, traten im November mehr als 120 Lehrlinge in den Ausstand und besetzten die Lehrlingswerkstatt. Sie forderten ein Ende von Kündigungen ohne Angabe von Gründen in der Probezeit, ein Einspruchsrecht für Lehrlinge in Personal- und Ausbildungsfragen und die Rücknahme dreier zuvor ausgesprochener Kündigungen. Nach einer Woche musste der Frankfurter Oberbürgermeister als verantwortlicher Arbeitgeber nachgeben und die Forderungen der Lehrlinge erfüllen.
1975: die letzte Großdemonstration in Dortmund
Einen Beitrag zur Kanalisierung des Protests leisteten auch die Gewerkschaften. In immer mehr Orten wurden gewerkschaftliche Jugendausschüsse gegründet, die die Funktion der Lehrlingszentren oder gleich diese selbst übernahmen. Viele Betriebsräte kümmerten sich nun auch um die Nachwuchskräfte in ihren Betrieben, die Gewerkschaften verstärkten ihre Jugend- und Jugendbildungsarbeit. Allmählich übernahm der DGB auch die Forderung nach eigenständigen Ausbildungstarifverträgen und band die Jugendlichen aus den Lehrlingszentren in die inhaltlichen Debatten und Verhandlungen ein. Den Gewerkschaften tat der frische Wind gut. Nicht nur stiegen ihre Mitgliederzahlen unter jungen Beschäftigten rasant an; vielerorts waren es vor allem die gewerkschaftlichen Jugendausschüsse, die nach Jahren der Saalveranstaltungen die Gewerkschaften am 1. Mai wieder auf die Straße brachten.
Mitte der siebziger Jahre ebbte die Lehrlingsbewegung ab. Diejenigen, die nicht in die Gewerkschaften integriert wurden, wandten sich immer stärker der Jugendzentrumsbewegung zu. Zugleich machte sich die Krise der Weltwirtschaft auch auf dem deutschen Ausbildungsmarkt bemerbar. An die Stelle des einstigen Überschusses an Ausbildungsplätzen trat ein Mangel. 1975 kamen auf etwa 375 000 Bewerber nur noch 326 000 Ausbildungsplätze, die Jugendarbeitslosigkeit stieg.
Im selben Jahr bäumte sich die Lehrlingsbewegung ein letztes Mal auf. Durch eine Reform des Berufsbildungsgesetzes sollte den Arbeitgebern die Verfügungsgewalt über die Ausbildung entzogen werden. Lehrlingszentren und Gewerkschaften wollten stattdessen die berufliche Bildung unter die Selbstverwaltung aller Beteiligten stellen und zudem ein staatliches Berufsgrundbildungsjahr einführen. In Dortmund demonstrierten am 8. November Zehntausende für eine bessere Berufsbildung, die SPD schwenkte mit ihrem Entwurf für ein neues Berufsbildungsgesetz auf die Linie von Gewerkschaften und Lehrlingsbewegung ein. Tatsächlich beschloss der Bundestag im April 1976 eine Neufassung des Berufsbildungsgesetzes, der Bundesrat lehnte das Gesetz jedoch einen Monat später ab. Die Bemühungen für eine umfassende Mitbestimmung der Auszubildenden waren vorerst gescheitert.
Auch derzeit liegt in der dualen Ausbildung einiges im Argen. Unbezahlte Überstunden, ausbildungsfremde Tätigkeiten und mangelnde Ausbildungsqualität gehören zum Alltag, wie der alljährliche Ausbildungsreport der DGB-Jugend zeigt. Zugleich klagen Vertreter der Branchen, die in der Ausbildungsqualität besonders schlecht abschneiden, über einen Mangel an Auszubildenden. Seit Jahren fordert die Gewerkschaftsjugend deshalb eine Novellierung des nun veralteten Berufsbildungsgesetzes. Obwohl im Koalitionsvertrag festgeschrieben, blieb die Reform auch in der vergangenen Legislaturperiode aus. Die Zeit scheint reif für eine neue Lehrlingsbewegung.
Erscheinen in Jungle Wolrd 51/2017, vom 21.12.2017