Das Jahr des sozialen Friedens

2018 wird ein Jahr vieler Tarifverhandlungen, aber weniger Arbeitsniederlegungen

Für fast zehn Millionen Beschäftigte werden in diesem Jahr neue Tarifverträge ausgehandelt. Die Zahl der Streiks wird sich jedoch vermutlich in Grenzen halten.

2018 steht ein sogenanntes großes Tarifjahr an. Nachdem 2017, abgesehen vom Einzelhandel mit seinen etwa drei Millionen Beschäftigten, in den großen und konfliktträchtigen Branchen keine Tarifverhandlungen stattgefunden ­haben, soll dieses Jahr fast überall über neue Verträge verhandelt werden. ­Neben der Metall- und Elektroindustrie mit ihren fast 3,5 Millionen Beschäftigten und dem öffentlichen Dienst der Kommunen und des Bundes mit 2,5 Millionen Beschäftigten wird unter anderem im Baugewerbe, in der ­chemischen Industrie, bei der Bahn, der Post und der Telekom um neue ­Tarifverträge gerungen. Für insgesamt 9,7 Millionen Beschäftigte handeln die Gewerkschaften in diesem Jahr neue Abschlüsse aus.

In kaum einem vergleichbaren Land wird so wenig gestreikt wie hierzulande. In Frankreich, Dänemark, Belgien, Spanien, Irland oder Finnland wird bedeutend häufiger die Arbeit niedergelegt.

Zu Beginn des Jahres steht der Tarifkonflikt in der Metall- und Elektro­industrie im Mittelpunkt. Dort sind bereits im November und Dezember ­erste Verhandlungen gescheitert. Am Montag beteiligten sich nach Angaben der IG Metall bundesweit über 15 000 Beschäftigte aus mehr als 80 Betrieben an Warnstreiks und Aktionen. Bereits am Donnerstag und Freitag vergangener Woche traten der Gewerkschaft zufolge etwa 6 000 Beschäftigte kurzzeitig in den Ausstand.

Die Beschäftigten scheinen bereit zu einer größeren Auseinandersetzung. Tausende begleiteten den Verhandlungs­auftakt mit Kundgebungen und ­Demonstrationen, viele gewerkschaftliche Vertrauensleute und Betriebsräte sprechen von einer regelrechten »Aufbruchsstimmung« in den Betrieben. Dies dürfte weniger mit der sich im üblichen Tarifrahmen bewegenden Forderung nach sechs Prozent mehr Gehalt zu tun haben als mit der Tatsache, dass die IG Metall zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder eine Verkürzung der Arbeitszeit fordert.

Statt auf eine kollektive und dauerhafte Arbeitszeitverkürzung setzt die Gewerkschaft allerdings diesmal auf individuelle Lösungen. Für zwei Jahre sollen die Beschäftigten ihre reguläre Wochenarbeitszeit von 35 auf 28 Stunden reduzieren und danach zur 35-Stunden-Woche zurückkehren können. Die IG Metall möchte so gleichzeitig das Reizthema der kollektiven Arbeitszeitverkürzung umschiffen und den Wünschen zahlreicher Beschäftigter nach einer zeitweisen Absenkung der Arbeitszeit, zum Beispiel zur Kindererziehung, Pflege oder Fortbildung, Geltung verschaffen.

Der Weg der stärkeren Individualisierung tarifvertraglicher Regelungen, den die IG Metall damit beschreitet, stößt zwar auch auf Kritik – nicht wenige befürchten, dass Beschäftigte künftig einfacher gegeneinander ausgespielt werden können. Der Wille der Beschäftigten, für eine neue Arbeitszeitpolitik auch in den Arbeitskampf zu ziehen, scheint jedoch so groß zu sein wie ­lange nicht mehr. Auch die Arbeitgeber wollen eine neue Arbeitszeitpolitik. Sie fordern eine »bedarfsorientierte Ausweitung des Arbeitszeitvolumens«. Statt weniger Arbeit nach Bedarf des Arbeitnehmers also mehr Arbeit nach Bedarf des Arbeitgebers. Wer sich in der Auseinandersetzung letztlich durchsetzt, ist offen und hängt auch davon ab, ob die IG Metall tatsächlich bereit ist, ihre Mitglieder nötigenfalls nicht nur zu Warnstreiks, sondern auch zu Erzwingungsstreiks aufzurufen.

Wesentlich konfliktärmer wird voraussichtlich die zweite große Verhandlungsrunde im Tarifjahr 2018 verlaufen, die im öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen. Nachdem Verdi bei der vergangenen Tarifrunde nach etlichen Jahren endlich eine neue Entgeltordnung durchsetzen konnte, die für viele Beschäftigte der gewerkschaftlichen Kernklientel strukturelle Verbesserungen mit sich brachte, scheinen harte Verhandlungen wenig wahrscheinlich. Noch ist unklar, mit welchen konkreten Forderungen die Gewerkschaft in die im Frühjahr beginnende Tarifrunde geht. Beobachter erwarten eine Gehaltsforderung von etwa sechs Prozent. Interessanter dürfte die Frage sein, ob es der Multibranchengewerkschaft Verdi gelingen wird, die Vor­teile, die sich aus der Organisierung verschiedener Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge ergeben, auch auszuspielen. Zu Beginn des Jahres ­enden nicht nur die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes, auch bei der Deutschen Post und bei der Deutschen Telekom wird neu verhandelt. Seit ­Jahren fordern viele Gewerkschaftsmitglieder gemeinsame Aktionen und koordinierte Warnstreiks, um den ­Forderungen mehr Nachdruck zu verleihen – bisher meist ohne Erfolg.

Sechs Prozent mehr Lohn fordern auch die IG Bau im Bauhauptgewerbe und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) für die Beschäftigten im Hotel- und Gaststättengewerbe. In beiden Bereichen sollen auch Verbesserungen für die Auszubildenden durchgesetzt werden. Im Sommer ­endet zudem der Gehaltstarifvertrag für die etwa 500 000 Beschäftigten in der chemischen Industrie. Ob die ­Öffentlichkeit dies überhaupt zur Kenntnis nehmen wird, ist fraglich. Die selbst für deutsche Verhältnisse über die ­Maßen sozialpartnerschaftliche Gewerkschaft IG BCE zieht in ihrem Kernbereich geräuschlose Tarifabschlüsse vor.

Protestaktionen, Warnstreiks, abgebrochene Verhandlungen, Einigungen in letzter Minute – all diese Kennzeichen tariflicher Auseinandersetzungen in anderen Bereichen haben in der chemischen Industrie Seltenheitswert. So liegen die letzten Streiks in der Branche inzwischen mehr als 45 Jahre zurück. Selbst wenn sich die Tarifparteien überraschenderweise doch nicht so schnell wie in der Vergangenheit einigen sollten, sind Arbeitsniederlegungen beinahe ausgeschlossen. Denn zuvor käme es erst einmal zu ­einer Schlichtung. Zu den Gepflogenheiten der Chemiebranche gehört nämlich auch, dass erst nach dem Scheitern der Schlichtung gestreikt werden darf.

In kaum einem vergleichbaren Land wird so wenig gestreikt wie hierzulande.

Wesentlich konfrontativer dürfte die Tarifrunde bei der Deutschen Bahn im Herbst 2018 verlaufen. Hier stehen sich nicht nur Arbeitgeber und Beschäftigte gegenüber, sondern auch die beiden Bahngewerkschaften EVG und GDL. Erstmals seit das Bundesverfassungsgericht im Juli 2017 das Tarifeinheitsgesetz der Bundesregierung für verfassungsgemäß erklärt hat, ringen die beiden Gewerkschaften um einen neuen Tarifvertrag – und nicht zuletzt um die Vorrangstellung bei der Inter­essenvertretung der Bahnbeschäftigten. Während der monatelangen Tarifaus­einandersetzung von Herbst 2014 bis in den Sommer 2015 kam es zu neun Arbeitsniederlungen, die bis zu sechs Tage andauerten. Erst in der Schlichtung wurde ein Ergebnis erzielt. Auch in ­diesem Jahr sind Arbeitsniederlegungen nicht unwahrscheinlich.

Im großen Tarifjahr 2018 wird es also insgesamt wohl nicht allzu viele Streiks geben. Diese Konfliktscheu hat Tradition. Im letzten großen Tarifjahr 2016 fielen 462 000 Arbeitstage streikbedingt aus. Rund drei Viertel der etwa 200 ­Arbeitskämpfe gehörten zu Auseinandersetzungen um Haus- oder Firmen­tarifverträge. Es waren also zumeist Abwehrkämpfe, bei denen es darum ging, Verschlechterungen gegenüber den Flächentarifverträgen zu verhindern. Zwischen 2006 und 2015 fielen in Deutschland im Jahresdurchschnitt pro 1000 Beschäftigte rechnerisch 20 Arbeitstage aus. In kaum einem vergleichbaren Land wird so wenig gestreikt wie hierzulande. In Frankreich waren es allein in der Privatwirtschaft etwa sechsmal so ­viele, ähnlich in Dänemark. Auch in Belgien, Spanien, ­Irland und Finnland wird bedeutend häufiger die ­Arbeit niedergelegt als in Deutschland. Nur in Österreich und einigen osteuropäischen Staaten streiken europäische Beschäftigte noch seltener.

Dabei wäre ein Kampf um höhere Löhne dringend geboten. Nicht nur wird die Kluft zwischen niedrigen Einkommen und Höchstverdiensten ­immer größer, auch im Vergleich mit der Entwicklung der Unternehmens­gewinne schneiden die Beschäftigten schlecht ab. Von 1995 bis 2014 wurden die durchschnittlichen Bruttolöhne um etwa 48 Prozent erhöht, die Unter­nehmens- und Vermögensgewinne wuchsen hingegen um etwa 67 Prozent. Vom wachsenden Gewinn wandert also immer weniger in die Taschen der Lohnabhängigen.

 Erscheinen in Jungle Wolrd 01/2018, vom 05.01.2018